Ein Träumer stört die
Rechtwinkligkeit der Welt
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Schauspiel Frankfurt |
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Bühne mit Peer Gynt im Krankenzimmer, Schauspiel Frankfurt
Foto (c) Birgit Hupfeld
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Andreas Kriegenburg
arbeitete ab 1984 als Regieassistent in Zittau und
Frankfurt/Oder. Nach der Wende wechselte er an die Berliner
Volksbühne, wo er bis 1996 fester Regisseur war. Als
Hausregisseur folgten Stationen am Niedersächsischen
Staatstheater Hannover (1997–1999) und Wiener Burgtheater
(1999–2001), dazwischen arbeitete er regelmäßig am Bayerischen
Staatsschauspiel in München. 2000–2009 war er Oberspielleiter am
Thalia Theater Hamburg und 2009–2014 Hausregisseur am Deutschen
Theater in Berlin. Außerdem inszenierte er regelmäßig an den
Münchner Kammerspielen. 2006 gab er sein Debüt als
Opernregisseur am Theater Magdeburg mit "Orpheus und Eurydike",
es folgte Alban Bergs "Wozzeck" an der Bayerischen Staatsoper in
München (2008) sowie am New National Theatre in Tokyo (2009) und
Verdis "Otello" an der Deutschen Oper Berlin. Für seine
Inszenierung von Hebbels "Die Nibelungen" erhielt er den
Nestroy-Theaterpreis für die beste deutsche Inszenierung des
Jahres 2005 und den 3sat-Innovationspreis. Seine Inszenierung
"Das letzte Feuer" von Dea Loher wurde mit dem
Faust-Theaterpreis 2008 ausgezeichnet. 2016 wurde er mit dem
"Europäischen Theaterpreis" prämiert. Insgesamt wurden neun
seiner Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Am
Schauspiel Frankfurt inszenierte er zuletzt "Amphitryon" von
Heinrich von Kleist.
Das viereinhalb
Stunden Stück "Peer Gynt" des Norwegers Henrik Ibsen lief in der
zurückliegenden Saison 2018/2019 in einer erfolgreichen
Inszenierung von Andreas Kriegenburg am Schauspiel Frankfurt.
Interview mit dem Regisseur
Warum die deutsche Fassung von Peter Stein und Botho Strauß?
Andreas Kriegenburg:
Es war zunächst eine Entscheidung für die lyrische Übersetzung
von Christian Morgenstern, die ich sprachlich dicht und
gleichzeitig sehr vergnüglich finde. Der Wechsel zwischen Prosa
und lyrischer Übersetzung wie ihn Peter Stein und Botho Strauß
darüber hinaus für ihre Schaubühnen-Fassung benutzten, ist
hilfreich für unsere Lesart. Das gereimte Verssprechen übt
besondere Dynamiken, einen besonderen Sog und Zwang auf das
Denken aus. Peer erlebt dazwischen auch immer wieder Momente des
Innehaltens und Momente, in denen er langsamer und mäandernd und
eben in Prosa denkt. Bestimmte Gefühle ergreifen dann wieder
Besitz von ihm, dass er wie automatisch wieder in den Vers und
auch in den Reim stürzt und sich vom ihm mitreißen lässt.
Peer ist Aufschneider, Lügner, er manipuliert und beutet aus -
Peer ein Antiheld?
Andreas Kriegenburg:
Das ist eine Frage der Perspektive. Peer ist ja kein notorischer
Lügner, der andere in einer böswilligen Weise hinters Licht
führen will. Er übertreibt sehr oft als eine Geste des
Selbstschutzes, um das Gefühl des Nicht-genügen-könnens zu
kaschieren. Es wird sehr früh in unserer Aufführung gesagt, dass
Peer nicht funktioniert. Aus der Perspektive des
Funktionierenden, aus der Perspektive der optimierten
Gesellschaft ist der Träumer Peer sicherlich ein Antiheld, weil
er stört, weil er sich selbst als störend empfindet.
Andererseits ist er mit dem in ihm lagernden und brodelnden
kreativen Potential, das er kaum unter Kontrolle halten kann,
ein Held für die Gesellschaft, weil er gegen alles Normative,
gegen alles Normale und alles Optimierte angeht. Eine
Persönlichkeit wie Peer passt eben nicht in die Gesellschaft,
weil er sich nicht einpassen kann. Da werden an dem
Kontrastmittel Peer auch die Engstellen, die Begrenztheit und
eine zu große Ordnung, zu große Rechtwinkligkeit einer
Gesellschaft spürbar. Aus romantischer Sichtweise ist er als
Antiheld ja auch der ideale Held. Wir kennen den Taugenichts ja
auch aus vielen Märchen, auch Hans-im Glück ist ein Antiheld.
Peer Gynt wird der nordische Faust genannt. Beide stehen als
Individuum für den Menschen schlechthin. Beide suchen ihr Leben
lang, bei beiden geht es zunächst „in die kleine Welt“, also die
der Beziehung, der Familie, der Ehe und Sexualität, und dann „in
die große Welt“, also der des Globalen und der
Menschheitsgeschichte. Was sind die Unterschiede?
Andreas Kriegenburg:
Peer ist auch der Antifaust. Er ist nicht der Wissenschaftler,
der Weltverstehende. Peer versucht sein Ich zu finden im Leben,
im Erleben. Und er befindet sich dabei immer in einem Kontrast
zwischen dem Bild, das er von sich selbst hat und den
Geschehnissen seines Lebens. Sein Selbstbild ist durch bestimmte
Konstellationen in seiner Kindheit entstanden. Peer hat den
sozialen Niedergang seiner Familie miterlebt. Als Reflex
entwickelt er Größenwahn- und Kaiserfantasien. Peer kommt eben
anders als der Analytiker Faust aus einer anarchischen
Kreativität, aus der Unordnung. Auch hier unterscheiden sie
sich: Faust geht als alter Mann zurück in seine Jugend. Peer
stürzt sich als junger, als sich selbst nicht kontrollieren
könnender Mann in sein Leben. Beide kommen erst am Lebensende zu
einem Punkt des Erkennens.
Ibsen verarbeitet märchenhaft-mythische und zeitsatirische
Elemente, Versdrama steht neben Szenen, die den Expressionismus
vorwegnehmen. Was soll man von der formalen Wildheit des Stücks
halten?
Andreas Kriegenburg:
Ibsen benutzt die ganze Welt des Theaters als eine
abgeschlossene Welt der unendlichen Möglichkeiten. Es ist ein
wucherndes Stück. "Peer Gynt" ist überbordendes Theater. Es
entzieht sich der Bemächtigung, weil Peer eine Wirklichkeit
sprengende Figur ist. Bis hin zu den Begegnungen mit dem
Knopfgießer und dem Teufel am Schluss. Das Stück zielt nicht auf
Theater als Vehikel, Wirklichkeit abbildbar zu machen. Es ist ja
ein hochphilosophisches, aber darin auch sehr emotionales Werk.
Weil eine Figur wie Peer, der Ichsucher, der Glücksucher, die
Zerrissenheit des heutigen Menschen lebt. Und das bildet sich
auch in der komplexen Form ab. Ibsen ist ebenso unbändig in der
Form wie seine Titelfigur im Denken und Erleben.
Hat "Peer Gynt" etwas mit den späteren Gesellschaftsdramen
gemein, die Ibsen so berühmt gemacht haben?
Andreas Kriegenburg:
Man findet Motive der genauen Beobachtung, die Ibsen
auszeichnen. Wie sehr seine Figuren determiniert sind durch das,
was sie erlebt haben, und die Schuld, die sie mit sich tragen.
Dass der freie Wille immer unterlegen ist im Kampf mit dem, was
ich an Schuldgefühlen aus meiner Kindheit mitbringe. Und auch
hier ist ganz stark spürbar, wie sehr Peer durch beide Eltern,
also durch Aase, die Mutter, die wir erleben, als auch durch den
abwesenden Vater, geprägt ist. Da gibt es ja fast eine
Wesensverwandtschaft zwischen Peer und Hedda etwa, die ja auch
nie von ihrem Vater losgekommen ist. Ibsen schreibt einen
unglaublich grausamen Lehrgang in Lebenskunst. Peer muss auf
grausame Weise erfahren, dass er Jahr für Jahr in verschiedenen
Lebenslügen verbracht hat - jemand, der sein Leben lang nur im
eigenen Dreck wühlt. Das spannende ist dann die große, fast den
Rahmen des Stückes sprengende humanistische Botschaft am Ende
des Stückes. Dass Peer die Wesensbestimmung von uns Menschen
erst in Solveig findet, die eben nicht nach dem Ich sucht, die
eben nicht versucht, sich zu verwirklichen, sondern die ihr
Leben Peer widmet. Sie sagt, ich hatte ein erfülltes Leben, weil
ich habe auf dich gewartet. Solveig unterläuft den
Individualitätsbegriff, von dem Peer geprägt ist, den er auch
verteidigt, der auch uns prägt und umgibt, aufs Radikalste. Und
sie zeigt damit auf berührende Weise, dass das Menschsein nicht
davon bestimmt ist, wer ich bin, sondern von welcher Interaktion
ich beseelt bin, wie sehr ich mich in einem anderen
widerspiegele oder mich für den anderen aufopfern kann.
Die Fragen stellte Dramaturg Volker Bürger
Siehe auch:
Peer Gynt
verwandelt Schauspiel in ein Tollhaus
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