Peer Gynt verwandelt Schauspiel in ein Tollhaus |
Foto (c) Birgit Hupfeld |
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Szene
aus Peer Gynt mit Krankenbett in der Inszenierung von Andreas
Kriegenburg, auf dem Bild: Max Simonischek als Peer, Sarah
Grunert
als Solveig
und Andreas Tillmann im Pyjama
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Tolle Inszenierung, die
das Schauspiel Frankfurt bietet. Zur Aufführung am 21. Juni 2019
waren viele Zuschauer gekommen. Immerhin viereinhalb
Stunden dauert das Stück des Norwegers Henrik Ibsen. Vieles
verliefe nicht so glücklich, gäbe es nicht die Neuübersetzung
des Stückes. Wie eine Sage erscheint Peer Gynt nur in neue Worte
gefasst. Andreas Kriegenburgs Inszenierung beginnt im
Krankenzimmer einer Irrenanstalt.
Alles ist in helles Weiß getaucht, die Krankenschwestern, die
Ärzte, aber auch die Wände und das Krankenbett tragen den
gleichen bleichen Farbton, um klinische Sterilität
vorzutäuschen. Peer Gynt liegt halbgekrümmt im Bett. Er mag sich
selbst nicht mehr und regt sich nicht. Solveig ist bei ihm,
versucht ihn zu trösten. Sie fleht ihn an, er, der Geliebter
ist. Sie beugt sich, auf der Bettkante sitzend, über ihn, schaut
auf ihn herab, auf den Einzigen den sie hat. Solveig, wer ist
sie? Bei Ibsen ist sie meldodramatischer. Im Theaterstück
jedoch, gespielt von
Sarah Grunert, vermittelt sie unsichtbare
Kühle. Sie schaut wie erstarrt mit psychodelischem Blick, so als
ob Peer Gynt ein Märtyrer wäre, dem sie mit ihrer zarten Natur
nicht gewachsen ist. Doch bleibt sie am Schluss übrig als
einzige. Sie ist das Gewissen, das überlebt hat. Die Bewahrerin
des Guten und Aufrichtigen, ohne sie gäbe es die Erzählung über
Peer Gynt vielleicht gar nicht mehr. Peer dagegen ist Akteur,
der die Handlung in Gang hält, Abenteuer besteht und geläutert
oder nicht nach langer Reise endlich zurückkehrt und die Welt
daheim nicht mehr wiedererkennt.
Der
große Peer, gespielt von
Max Simonischek, hat eine imposante
Gestalt und so viel Eros, um die Bühne mit den Zuschauern für
sich in Schach zu nehmen. Derweil phantasiert er. In seinen
Tagträumen jagt er auf einem Hirschbock durch die norwegische
Bergwelt. Aase, gespielt von
Katharina Linder, ist Peers Mutter, sie glaubt an ihren
Sohn und liebt ihn abgöttisch, befeuert
so noch seine wilden Sehnsüchte nach Bewunderung. Die bäuerliche
Dorfgesellschaft hingegen steht dem Außenseiter, der so manisch
um sich selbst kreist, feindselig gegenüber. Bei einem
Hochzeitsfest stacheln sie ihn an, seine trunkenen
Lügengeschichten zum Besten zu geben. Gereizt bis aufs Blut
raubt Peer die Braut, die er gleich wieder sitzen lässt.
Ausgestoßen begibt sich Peer auf eine lebenslange Flucht. Vor
den anderen? Vor sich selbst? Auf seiner Reise begegnet er dem
Trollkönig und seinem Hofstaat, wird als Sklavenhändler reich,
gibt sich in der afrikanischen Wüste als Prophet aus und wird
von den Insassen einer ägyptischen Irrenanstalt zum Kaiser
ausgerufen. Nach Jahren der Abwesenheit kehrt er zurück, trifft
auf seine Jugendliebe Solveig. Peer hat sie vergessen. Sie hat
all die Jahre in einer Berghütte auf ihn gewartet. Kann Solveigs
Liebe Peer erlösen?
Andreas Kriegenburg
erzählt die Geschichte
von Peers Weltflucht neu. Peers Lebensmotto "Sei du selbst", der
Wahn sich selbst zu verwirklichen, münden in die unabdingliche
Frage: "Was bleibt am Ende eines Lebens?"
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Peer Gynt umringt die
Tochter des Hägstadbauern (Paula Hans)
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Zahlreiche Doppelrollen wurden im Stück "Peer Gynt" vergeben. So
spielt die grazile
Melanie Straub
sowohl eine in weiß gekleidete Krankenschwester im Krankenzimmer
Peers, dann eine Bauersfrau, einen verkleideten Traumarzt, ein
junges Mädchen, Mutter Moen, die Sennerin, einen Troll, den
Krummen, eine Stimme im Dunkeln, ein arabisches Mädchen sowie
einen fremden Passagier, eine Dorfbewohnerin und einen Mageren.
Das sind eine Vielzahl an Rollen, die an nur eine Darstellerin
innerhalb eines Stücks vergeben werden. Weitere Rollen wurden
ähnlich bestückt. Besonders eindrucksvoll ist Melanie Straub als
fremder Passagier vor dem Floß stehend, indem eine Lichtquelle ihr Gesicht
abwechselnd aufscheinen lässt und dann wieder nicht, während sie
damit beschäftigt ist, ihren Text losungsartig in Richtung des
Publikums von sich zu geben.
Der Bühnenaufbau von Harald B. Thor
ist eine Konstruktion aus
eigenem Haus. Es handelt
sich um eine doppelstöckige Bühne, die sich wie ein
Aufzugschacht von oben nach unten bewegt. Genaugenommen eine
Box, in deren Inneres sich das schneeweiße Krankenbettzimmer
befindet. Der Zuschauer schaut hinein wie in einen Setzkasten.
Die gesamte Box kann zum Szenenwechsel nach unten gezogen werden
unter den Bühnenraum, so dass eine zweite Bühne auf dem Dach der
ersten den Zuschauerraum einnimmt. Auf der zweiten Bühne bieten sich eine Menge
überlanger Bretter, 5 Meter lang und mehr, welche Baumstämme,
vermutlich lange Kiefern aus
dem Wald in der norwegischen Heimat Peer Gynts,
repräsentieren. Große Teile des Stückes spielen im Wald und in
einer schlichten Waldbehausung. Zusätzlich wurde ein Gespann aus Tragseilen
installiert, die je nach Bedarf einzelne der Bretter in
verschiedene Richtungen jonglieren - nicht ungefährlich der
Bühnenaufbau - wenn auf den Brettern, die sonst die
Welt tragen, auch noch Darsteller stehen oder ein
Krankenbett über Tragseile nach oben gehievt werden soll.
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Friederike Ott spielt die Tochter des Trollkönigs und Peer Gynt, der
um deren Hand anhält, bei den Trollen im Wald
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Von dem erleuchteten weißen
Krankenzimmer am Anfang der 1.Szene aus führt eine Tür auf den
Flur hinaus. Diese Tür steht offen, so dass Zuschauer den Blick
in den Gang werfen. Dadurch entsteht Großräumigkeit. Peer Gynt
entschwindet irgendwann während der ersten drei Akte durch eine
kleine Luke nach oben auf die zweite Bühne. Er phantasiert. Oben
angekommen, steht er im Wald auf einer Lichtung und suhlt sich
in Erde. Er ist vom erdigen Lehm auf dem Fußboden am ganzen
Körper verschmiert.
Die
Tochter des Hägstadbauern heißt Ingrid. Peer buhlt um sie,
gespielt von Paula Hans mit ausdrucksstarker Mimik. Dann
eine Orgie versteckt mitten im Wald: Peer ist bei den Trollen
angekommen, die wie archaische Waldmenschen verkleidet sind,
wenig Kleidung am Körper haben, halbnackt, und merkwürdige
Bedeckungen aus Ästen und Zweigen auf dem Kopf mit sich
herumtragen. Auf
das Versprechen hin, er bekäme das halbe Reich als Mitgift,
schlägt er ein. Peer soll die Tochter des Trollkönigs heiraten. Der
Trollkönig schaut drein, gespielt von
Sebastian Reiß, und fragt provokativ nach dem Unterschied
zwischen Mensch und Trollen? Die Antwort kommt verhalten aber
mit Zugeständnissen. Gibt es einen Unterschied oder gibt es
keinen? Viele Trolle schwirren zombieartig über die Bühne, ein
Sausen und Brausen in der schaurig dunklen Nacht des Waldes.
Peer flüchtet. Danach folgt die Schlussszene mit Aase, seiner
Mutter, die er über alles liebt. Die Szene ist meiner Meinung
nach eine Schlüsselszene im gesamten Stück. Peers Mutter liegt
danieder während er vor sich hin phantasiert. Sie stirbt am
Schluss des dritten Aktes beinahe unbemerkt. Danach beginnt die
erste Pause während der Aufführung.
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Sebastian Reiß ist Peers Vater, Katharina
Linder als Mutter und Peer (Max Simonischek) am Schluss des 3.
Aktes
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Im
vierten Akt ist der gleiche Bühnenaufbau wie zuvor zu sehen.
Peer Gynt hat sich verändert, er ist plötzlich Unternehmer. Der
Kontext ist für den Zuschauer nicht sofort zu erschließen, sei
aber gegeben wie aus dem Text bei Ibsen zu lesen. Peer Gynt gibt
sich weltmännisch mit Anzug und Krawatte. Mehrere Herren sitzen
auf den Brettern an den Tragseilen schwebend und diskutieren.
Peer erklärt, er will Kaiser der ganzen Welt werden. Etwas
später ist er Prophet in der Wüste. Tänzerinnen mit langen Fahnen
umschwärmen ihn. Am Bühnenbild hat sich nicht sehr
viel verändert. Die langen Bretter des Bühnenaufbaus sind in den
Hintergrund gerückt und stehen vertikal aufgereiht
nebeneinander.
Bald
hat Peer auch das Unternehmersein wieder satt. Er steigt hinab durch
die Luke, durch die er zuvor nach oben gekommen ist und befindet
sich wieder im Krankenzimmer, dessen Bühne wieder nach oben
gefahren wurde. Mittlerweile sieht es dort zerzaust aus. Mehrere
Monologe folgen, bevor sich Peer durch die kleine Luke wieder
auf die Bühne nach oben begibt und sich auf die Rückkehr in
seine Heimat vorbereitet. Ein
Floß aus Brettern improvisiert trägt ihn seemännisch übers Meer. Der
Schluss ist wie der Anfang: Solveig ist da und wartet auf Peer,
der dies jedoch nicht zu schätzen weiß.
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Peer Gynt gelangt mit anderen Passagieren
auf einem Schiff übers Meer zurück in seine norwegische
Heimat
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"Aus der Perspektive der optimierten Gesellschaft ist der
Träumer Peer ein Antiheld, weil er stört, weil er sich selbst
als störend empfindet. Andererseits ist er mit dem in ihm
lagernden und brodelnden kreativen Potential, das er kaum unter
Kontrolle halten kann, ein Held für die Gesellschaft, weil er
gegen alles Normative, gegen alles Normale und alles Optimierte
angeht. Aus romantischer Sichtweise ist er als Antiheld ja auch
der ideale Held."
Andreas Kriegenburg zu seiner Inszenierung
Aufgrund der Dramatik und starken Ausdrucksformen, Darsteller
tanzen zum Teil entblößt über die Bühne, besteht eine
empfohlene Altersempfehlung ab 16 Jahren für das Bühnenstück in
dieser Inszenierung.
Eine Schauspielrezension von Kulturexpress
Siehe auch:
Ein Träumer
stört die Rechtwinkligkeit der Welt. Gespräch mit Andreas
Kriegenburg
Siehe auch: Die
Junge Bühne mit "Peer Gynt" von Henrik Ibsen am Goetheanum
Besetzung:
Max Simonischek (Peer Gynt)
Katharina Linder (Aase, seine Mutter)
Sarah Grunert (Solveig / Traumarzt / junges
Mädchen / Troll / arabisches Mädchen / Patientin)
Paula Hans (Krankenschwester / Traumarzt / junges
Mädchen / Ingrid, Tochter des Hägstadtbauern / Sennerin
/ Troll / Anitra / Patientin / Schiffsbesatzung /
Dorfbewohnerin)
Friederike Ott (Patientin / Bauersfrau /
Traumarzt / junges Mädchen / Sennerin / die Grüne,
Tochter des Trollkönigs / arabisches Mädchen / Patientin
/ Schiffskoch / Dorfbewohnerin)
Melanie Straub
(Krankenschwester / Bauersfrau / Traumarzt / junges
Mädchen / Mutter Moen / Sennerin / Troll / der Krumme,
eine Stimme im Dunkeln / arabisches Mädchen / Fremder
Passagier (der Krumme) / Dorfbewohnerin / der Magere
(der Krumme)
Sebastian Reiß
(Peers Vater / Traumarzt / junger Mann / Solveigs Vater
/ Trollkönig / Monsieur Ballon / arabischer Mann / Dr.
Begriffenfeld, Irrenhausdirektor / Kapitän /
Dorfbewohner / Trollkönig) |
Florian Mania (Chefarzt / Traumarzt / Aslak, ein
Schmied / Troll / Master Cotton / arabischer Mann / Patient)
Christoph Pütthoff
(Patient / Traumarzt / junger Mann / Troll / von Eberkopf /
arabischer Mann / Schiffsbesatzung / Dorfbewohner / Knopfgießer)
Fridolin Sandmeyer
(Pfleger / Traumarzt / junger Mann / Koch / Troll / Hehler /
Herr Schreibfeder / Bootsmann / Dorfbewohner)
Nils Kreutinger
(Pfleger / Traumarzt/ junger Mann / Mads Moen / Troll /
Schiffsbesatzung)
Andreas Tillmann
(Peer Gynt im Bett)
Stab:
Regie: Andreas Kriegenburg
Bühne: Harald B. Thor
Kostüme: Andrea Schraad
Dramaturgie: Volker Bürger
Schauspielhaus Premiere 18. Mai 2019
Dauer ca. 4 Stunden 30 Minuten
Pausen nach dem 3. und 4. Akt |
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