bis 17. Januar 2016

Auf der Suche nach 0.10 - russische Avantgarde von 1915 futuristische Malerei

   Bucheinband: Hatje Cantz

Was zu sehen ist, ist die Wiederholung einer Ausstellung, die vom 19. Dezember 1915 bis 19. Januar 1916 schon einmal und zwar in Petrograd in Russland lief. Seinerzeit jedoch unter völlig anderen Vorzeichen. Die neue Ausstellung versteht sich als Versuch der kritischen Rekonstruktion eines für die Kunstgeschichte so bedeutsamen Ereignisses.

 

Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog bei Hatje Cantz erschienen. Herausgegeben von Matthew Drutt. Gewidmet ist der Katalog Anatolij Strigalev (1924 - 2015), der neben Anna Szech und Maria Tsantsanoglou die Beiträge zum Katalog verfasste. Der Katalog enthält eine Chronik der Jahre 1905 - 1935, die von Anna Szech zusammengestellt wurde. Sie gibt Hinweis wie sich die Malerei weiterverfolgen lässt auch nach den politischen Veränderungen und der Russischen Revolution von 1917. Außerdem sind die Biografien einzelner Künstler im Bildteil vorhanden, die ebenfalls von Anna Szech und von Irina Arskaja verfasst worden sind.

 

Zu Anfang steht das Plakat in kyrillischen Schriftzeichen und den arabischen Ziffern 0,10. Es bildet sozusagen die Einführung in einen Tatsachenbericht. Ab da beginnt die Suche, eine Suche nach der letzten futuristischen Ausstellung der Malerei. Im ersten Stock eines Petrograders Wohnhauses befanden sich die Ausstellungsräume. Das gelbe Haus befindet sich in zentraler Umgebung nahe der Moika gegenüber dem Marsfeld, einem Exerzierplatz nicht weit vom reich verzierten Winterpalais der russischen Zarenfamilie.

 

Im Mittelpunkt steht auch ein Bild, das von Kasimir Malewitsch gemalt worden ist und den Titel trägt "Schwarzes Quadrat" von 1915, eine Ikone der modernen Kunst. Obwohl der Begriff Ikone in diesem Zusammenhang nicht geeignet ist. Es handelt sich dabei um eine schlichte quadratische Leinwand, die flächendeckend mit schwarzer Farbe bemalt wurde, so dass der Eindruck einer schwarzen quadratischen Fläche entsteht. Mehr ist auf dem rahmenlosen Bild nicht zu sehen. Doch das war schon genug, um neuartiges auszulösen. Daneben sind Bilder von Malewitschs runder Kreis, Rechteck und flächiges Kreuz ebenfalls in schwarz auf hellen Grund gesetzte reduzierte Formen. Ähnliche zeichenartige Motive gibt es auch in Rot oder Blau. Ein historisches s/w Foto vom Ausstellungsraum gibt Aufschluss über die Petersburger Bildhängung.

 

Mit „Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei“ feiert die Fondation Beyeler einen der denkwürdigen Momente für die Entwicklung der Gegenwartskunst. Die Ausstellung „0,10“ fand im Jahr 1915 in Petrograd (in das der deutschklingende Name der russischen Hauptstadt – Sankt Petersburg – kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges geändert wurde) statt und sollte sich als eine der bedeutendsten des 20. Jahrhunderts erweisen. Sankt Petersburg wurde zur Wiege der Russischen Avantgarde:

 

Mit „0,10“ setzt die Fondation Beyeler nach „Venedig“, „Wien 1900“, „Surrealismus in Paris“ ihre Ausstellungsserie über Städte fort, die für die Entwicklung der modernen Kunst ausschlaggebend waren. „0,10“ markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der modernen Kunst und beschreibt jenen historischen Moment, als Kasimir Malewitsch seine ersten nicht-gegenständlichen Gemälde schuf und Wladimir Tatlin mit seinen revolutionären Konter-Reliefs an die Öffentlichkeit trat. Darunter befindet sich auch Tatlins "Blaues Konterrelief" aus dem Jahre 1914, einer synthesostatischen Komposition aus Holz, Metall, Leder, Waschblau, Kreide und Leimfarben. Mit den Maßen 79,5 x 44 x 7,3 cm aus einer Privatsammlung stammend.

 

Die meisten anderen Künstler, die an der ursprünglichen Ausstellung beteiligt waren, werden ebenfalls in der kritisch rekonstruierten Version der Fondation Beyeler vertreten sein: Natan Altman, Wassili Kamenski, Iwan Kljun, Michail Menkow, Vera Pestel, Ljubow Popowa, Iwan Puni, Olga Rosanowa, Nadeschda Udalzowa und Marie Vassilieff.

 

Das einzigartige ist der Erfindungsgeist, den die russische Avantgarde an den Tag legte, um ihre Werke zu erschaffen, muss man schon sagen. Aus diesen Bildern spricht Kreativität, eine eigene Formensprache, wie das in den Zeiten danach und in der Sowjetunion nicht mehr der Fall ist. Politik und Russische Revolution vertreten bald andere Ideale, die mit Kubismus und Suprematismus nicht mehr einher gingen. Einfache und doch intensive Ausdrucksformen steckt in Bildern und Reliefen und drückt über Jahrzehnte hinweg eine Ausdrucksform der eignen Sprachlichkeit aus. Es bedeutete die Abkehr von der traditionellen russischen Kunst. Die Gruppenausstellung von damals entfernte sich von allem, was bisher in der Malerei da gewesen war.

 

"Ich warte auf gut ausgerüstete künstlerische Niederlassungen, wo die psychische Maschine des Künstlers eine entsprechende Reparatur erhalten kann. Ich rufe alle meine Berufsgenossen auf., durch das das von mir gebotene Tor zum Sturz des überkommenen zu treten, damit ihr Geist den Weg des Anarchismus beschreiten kann." Zitat Wladimir Tatlin.

 

Wassilij Kandinsky hatte um 1907 die abstrakte Malerei erfunden. George Braque, Pablo Picasso und Juan Gris waren die ersten Vertreter einer Stilrichtung mit Namen Kubismus, das war ebenfalls um 1907. Die Ausstellung in Russland war schon eine Weiterentwicklung. Die Ausstellung hat nicht nur für Russland an kunsthistorischer Bedeutung gewonnen, sondern auch für die gesamte westliche Welt seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Futuristische Malerei eigner Ausprägung fand in späteren Jahren besonders in Italien intensive Ausprägung und starke Verbreitung.

 

Doch die Kritiker antworteten mit Hohn und nannten die Ausstellung einen "chaotischem Gärungsprozess", der sich vor den Augen der Betrachter abspielt. Die Künstler waren gestraft. Es heißt weiter: wenn man des Gebäude betritt, wird man von einem peinlichen Gefühl erfasst. Urheber solcher Berichte war die bürgerliche Presse, die in diesem Punkt mit der breiten Öffentlichkeit einer Meinung war.

 

Maria Tsantsanoglou beschäftigt sich in ihrem Katalogbeitrag näher dem Kunstsammler George Costakis, der ursprünglich aus Griechenland kam. Der Sammler sah sich im stalinistischen Regime mit zahlreichen Repressalien konfrontiert. Seine Wohnung fungierte dann in den 1960 und 70er Jahren als inoffizielles Museum für Moderne Kunst in Moskau. Costakis verließ Moskau im Jahre 1977 und zog nach Griechenland um. Einen erheblichen Teils einer Sammlung stiftete er der staatlichen Tretjakow Galerie in Moskau. In der Riehener Ausstellung ist neben anderen Exponate aus dem Staatlichen Museum für zeitgenössische Kunst, Thessaloniki zu sehen. Darunter ist das Bild "Schwarzes Rechteck" von Malewitsch aus dem Jahre 1915. 

 

Im Anhang des Katalogs finden sich die Abbildungen zahlreich erhalten gebliebener Dokumente und Manifeste, die ein Beleg sind für die revolutionäre Bedeutung der Kunstwerke von damals. Abgedruckt ist Malewitschs Text "Vom Kubismus zum Suprematismus". Der neue malerische Realismus, wie es heißt. Aber auch Tagebuchauszüge von Nadeschda Udalzowa sind Bestandteil des Anhangs.

 

Auf der Suche nach "0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei"
Hrsg. Matthew Drutt, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Texte von Sam Keller, Anatolij Strigalev, Anna Szech, Maria Tsantsanoglou, Gestaltung von Miko McGinty
Hatje Cantz Verlag, Berlin 2015.

Leinen gebunden 272 Seiten, 188 Abb.
Größe: 25,20 x 31,00 cm


Deutsche Ausgabe  ISBN 978-3-7757-4032-6

English Edition   ISBN 978-3-7757-4033-3

 

Siehe auch: Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei

 

Kulturexpress ISSN 1862-1996

vom 23. Dezember 2015