Die
letzte futuristische Ausstellung der Malerei“ feiert die
Fondation Beyeler einen der denkwürdigen Momente für die
Entwicklung der Gegenwartskunst. Die Ausstellung „0,10“ fand
im Jahr 1915 in Petrograd (Sankt Petersburg) statt und
sollte sich als eine der bedeutendsten des 20. Jahrhunderts
erweisen. Sankt Petersburg wurde zur Wiege der Russischen
Avantgarde:
Mit „0,10“ setzt die Fondation Beyeler nach „Venedig“, „Wien
1900“, „Surrealismus in Paris“ ihre Ausstellungsserie über
Städte fort, die für die Entwicklung der modernen Kunst
ausschlaggebend waren. „0,10“ markiert einen Wendepunkt in
der Geschichte der modernen Kunst und beschreibt jenen
historischen Moment, als Kasimir Malewitsch seine ersten
nicht-gegenständlichen Gemälde schuf und Wladimir Tatlin mit
seinen revolutionären Konter-Reliefs an die Öffentlichkeit
trat. Die meisten anderen Künstler, die an der
ursprünglichen Ausstellung beteiligt waren, werden ebenfalls
in der kritisch rekonstruierten Version der Fondation
Beyeler vertreten sein: Natan Altman, Wassili Kamenski, Iwan
Kljun, Michail Menkow, Vera Pestel, Ljubow Popowa, Iwan Puni,
Olga Rosanowa, Nadeschda Udalzowa und Marie Vassilieff.
Kasimir Malewitsch „Das schwarze Quadrat“
Zugleich ehrt „Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte
futuristische Ausstellung der Malerei“ das ikonische Werk
von Kasimir Malewitsch „Das schwarze Quadrat“ und zelebriert
dessen 100jähriges Jubiläum. Das monochrome Gemälde war pure
Provokation, denn es zeigte nichts als eine leicht
verzerrte, schwarze Fläche, die weiß umrandet war. Zudem
hing es innerhalb der Präsentation im sogenannten
Gotteswinkel, wo sonst Ikonen das Haus schmückten.
Kompromisslos und
enigmatisch, sorgten die Werke des Suprematismus für einen
schlagartigen Paradigmenwechsel in der Kunstszene. Die Werke
werden äusserst selten geliehen: zum ersten Mal wird eine
derart reich bestückte Präsentation suprematistischer Werke
in der Schweiz präsentiert. Jahrelange Recherchen und ein
lange gepflegter, kunstwissenschaftlicher Austausch mit
namhaften russischen Museen gingen dieser Zusammenarbeit im
Jubiläumsjahr des Schwarzen Quadrats voraus. Z.B. fanden
bereits ab 2008 mit ersten Einzelausstellungen zu Alberto
Giacometti und Paul Klee (2013) in Russland, letztere als
Kooperation der Fondation Beyeler und des Zentrums Paul
Klee, hochkarätige Kooperationen statt.
Die Namensgebung: 0,10 – Die letzte
futuristische Ausstellung der Malerei
Der Titel „0,10“ (null-zehn) ist keine mathematische Formel,
sondern ein Kode, der auf die Idee von Malewitsch
zurückgeführt wird: Die Null sollte die Zerstörung der alten
Welt – auch der Welt der Kunst – und zugleich den Neubeginn
symbolisieren. Die Zahl 10 geht auf die ursprünglich
geplante Zahl der teilnehmenden Künstler zurück. Auch die
Worte „letzte futuristische“ sind als Kodierung zu
verstehen: Damit wollte man zeigen, dass man sich vom
Einfluss des italienischen Futurismus nun distanzieren, ja
befreien wollte. Es wird klar, in welch rasantem Tempo
Stilrichtigen damals einander ablösten: War man Anfang 1915
vom Futurismus noch begeistert, forderte man Ende des Jahres
eine Loslösung davon.
Das Umfeld der Ausstellung begleiteten leidenschaftliche
Stellungnahmen und stürmische Auseinandersetzungen unter den
Teilnehmern. Bei der Planung wurden noch in letzter Minute
Änderungen vorgenommen, so wich die finale Teilnehmerzahl
doch noch vom Titel ab, da manch einer kurzfristig absprang,
wobei andere überraschend hinzukamen. Insgesamt stellten 14
Künstler ihre Arbeiten aus: 7 weibliche und 7 männliche,
denn die Ausstellungsmacher bestanden auf Parität der
Geschlechter. Zwei der Ausstellungsteilnehmer ragten mit
ihren Arbeiten als Vorboten absolut neuer, radikaler Wege
für die Weiterentwicklung der Kunst heraus. Zum einen war es
Kasimir Malewitsch, der im Rahmen der Letzten Futuristischen
Ausstellung der Malerei 0,10 mit seinen völlig abstrakten,
aus geometrischen Figuren bestehenden Gemälden eine bis
dahin nicht gekannte Dimension der bildenden Kunst
erschloss. Für seine Arbeiten kreierte er den Namen „Suprematismus“
(vom lat. supremus=das Höchste), was seine Ansprüche auf die
führende Rolle in der Kunst offen legte. Zum anderen war es
Wladimir Tatlin, der mit seinen ebenfalls abstrakten, aus
kunstfremden Materialen geschaffenen Skulpturen, neue
Lösungen für eine vom klassischen Sockel befreite Skulptur
anbot. Auch wenn die ursprüngliche Ausstellung in ihrem
Charakter alles andere als einheitlich war – es gab eine
große Vielfalt an künstlerischen Stilen und ästhetischen
Programmen –, so wirkte sie doch wie ein Weckruf, der das
Ende des Kubo-Futurismus als vorherrschendem Trend in der
russischen Malerei besiegelte und völlig neue Wege des
Experimentierens eröffnete. Nach jener Schau avancierten
Malewitsch und Tatlin sofort zu den Anführern der
europäischen Avantgarde.
*Natürlich kann das Projekt der Fondation Beyeler nicht den
Anspruch erheben, die Ausstellung von 1915 originalgetreu
rekonstruieren zu wollen – viele der damaligen Exponate sind
verschollen oder zerstört –, dennoch wird es zahlreiche
Originalwerke der ursprünglichen Ausstellung präsentieren,
ergänzt um andere zeitgenössische Meisterwerke derselben
Künstler, und damit den Besuchern einen ganz konkreten
Eindruck von der künstlerischen Energie verschaffen, die im
Russland des frühen 20. Jahrhunderts so überreich vorhanden
war. Welchen Einfluss „0,10“ noch heute auf Künstlerinnen
und Künstler ausübt, macht eine zweite Ausstellung deutlich:
„Black Sun“ wird mit Werken zeitgenössischer Künstler den
Weg zur Abstraktion und der geheimnisvollen Nichtfarbe
Schwarz nachzeichnen. „Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte
futuristische Ausstellung der Malerei“ und „Black Sun“
werden vom 4. Oktober 2015 bis zum 10. Januar 2016 in der
Fondation Beyeler zu sehen sein. Die Ausstellung „Auf der
Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der
Malerei“ wurde unterstützt durch: Presenting Partners AVC
Charity Foundation Cahiers d’Art Partner Phillips ist eine
führende globale Plattform für den Kauf- und Verkauf von
Kunstwerken und Designobjekten des 20. und 21. Jahrhunderts.
Parallel zeigt die Ausstellung
«Black Sun» aus heutiger Perspektive eine große Auswahl
wichtiger Werke in Malerei, Skulptur, Installation und Film,
die den enormen Einfluss von Malewitsch und seinem
Schwarzen Quadrat auf die zeitgenössische Kunst
thematisieren.
„Black
Sun“ eine Hommage an Malewitsch und Tatlin
Entstanden als Hommage an Malewitsch und Tatlin, beschäftigt
sich „Black Sun“ aus heutiger Perspektive mit dem enormen
Einfluss der zwei Vertreter der russischen Avantgarde auf
die künstlerische Produktion bis in die Gegenwart. Die
Ausstellung wurde in enger Zusammenarbeit mit einigen der
ausgestellten Künstlern realisiert. * Die ursprüngliche
Ausstellung „0,10“, die das Künstlerpaar Iwan Puni und Xenia
Boguslawskaja organisierte, wurde am 19. Dezember 1915 in
Petrograd mit mehr als 150 Werken von rund 14 Künstlern der
russischen Avantgarde eröffnet, von denen die meisten
entweder Parteigänger Malewitschs oder Tatlins waren. Von
den rund 150 im Winter 1915-1916 in Petrograd ausgestellten
Werken ist heute nur ein Drittel erhalten geblieben. Als
Ausstellungsort diente die Galerie von Nadeschda Dobytschina.
Sie gilt als erste Galeristin Russlands. Bereits seit 1911
nutzte sie einige Räume ihrer grosszügig dimensionierten
Wohnung als Ausstellungsfläche und war innerhalb der
Kunstszene wohl bekannt.
Die Leihgeber
Die ausgestellten Werke
und Dokumente wurden aus Museen, Archiven und privaten
Sammlungen zusammen getragen. Neben der Tretjakow-Galerie in
Moskau und dem Russischen Museum in Sankt Petersburg tragen
14 regionale russische Museen sowie führende internationale
Institutionen wie das Centre Georges Pompidou in Paris, das
Stedelijk Museum in Amsterdam, das Museum Ludwig in Köln,
die Sammlung George Costakis aus Thessaloniki, das Art
Institute of Chicago, das MoMA in New York mit raren und
wertvollen Leihgaben zur Ausstellung bei.
Zum ersten Mal in der russischen und westlichen
Ausstellungspraxis werden die wertvollen Leihgaben in der
Ausstellung der Fondation Beyeler vereint und mit Werken
derselben Künstlerinnen und Künstler aus demselben Zeitraum
ergänzt, um die einzigartige, energiegeladene Atmosphäre des
künstlerischen Aufschwungs im Russland des frühen 20.
Jahrhunderts aufleben zu lassen. Gastkurator ist Matthew
Drutt, der bereits für die großen Malewitsch-Retrospektiven
im Guggenheim Museum, New York, und in der Menil Collection,
Houston, verantwortlich war. Parallel dazu ist in der
Fondation Beyeler auch die Ausstellung „Black Sun“ zu sehen.
Sie präsentiert Werke von insgesamt 36 Künstlern des 20. und
21. Jahrhunderts in unterschiedlichen Medien wie Malerei,
Skulptur, Installation und Film sowie Kunst im öffentlichen
Raum.
Siehe auch:
Auf der Suche
nach 0.10 - russische Avantgarde von 1915 futuristische
Malerei