Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße. Die Vielfalt
seiner Bewohner und die Aufarbeitung einer Entwicklungsgeschichte |
Meldung: Historisches Museum, Frankfurt a/M, den 11. 06.. 2014 |
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Das
historische Museum Frankfurt nimmt das aktuelle Forschungsprojekt zur
Geschichte des Wohnwagenstandplatzes Bonameser Straße und seiner
Bewohner und Bewohnerinnen zum Anlass, um sie in die 'Bibliothek der
Alten' aufzunehmen.
Die 'Bibliothek der Alten' ist ein von der Künstlerin Sigrid Sigurdsson
initiiertes Erinnerungsprojekt, welches als „offenes Archiv" agiert, an
dem viele verschiedene Personen und Institutionen mitschreiben und das
viele Stimmen und Perspektiven zu Wort kommen lässt. Das Projekt ist
Generationen übergreifend angelegt, damit soll ein Zeitraum von über 300
Jahren erinnerter Geschichte umfasst werden.
Im
Vordergrund des
„Wohnwagenprojekts Bonameser Straße" steht
die Aufarbeitung der Lebensläufe unterschiedlicher Bewohner, was
zugleich als Beitrag zur kulturellen Diversität der Stadt Frankfurt
verstanden werden will. Der zunächst in der Nachkriegszeit als Notlösung
eingerichtete Standplatz ist heute ein Ort alternativer Lebenswelten,
was sich bei näherer Betrachtung als überaus faszinierendes Projekt entpuppt,
welches nach und
nach erkundet werden soll.
Die Kuratorin Dr. Angela Jannelli meint: „Das Projekt zum
Wohnwagenstandplatz ist für die Bibliothek der Alten ein Glücksfall".
Sonja Keil, Mitarbeiterin der Diakonie, und Angela Jannelli fanden im
biographisch angelegten Forschungsprojekt schell zueinander, wobei die
eine nicht lange zögerte, der anderen eine Autorschaft für die
'Bibliothek der Alten' anzubieten.
Im Rahmen
des Projekts erstellt der Fotograf Rolf Oeser eine Reportage, die einen behutsamen Blick auf die Bewohner wirft und zeigt,
welche individuellen Lebenswelten auf dem Platz an der Bonameser Straße
entstanden sind.
Frau
Keil konnte ein Vertrauensverhältnis zu den Bewohnerinnen und Bewohnern
des Platzes aufbauen, durch welches die Biographiearbeit erst möglich
wurde. Dieses Vertrauen ist umso wichtiger, da viele Bewohner aufgrund
ihrer sozialen Situation zum Teil traumatische Erfahrungen mit Behörden
gemacht haben, die bis in die Zeit des Nationalsozialismus und davor
zurückreichen.
Durch das Forschungsprojekt soll die einzigartige Geschichte des Platzes
und seiner Bewohner festgehalten werden. Einer Tradition die bisher
überwiegend durch mündliche Weitergabe oder durch die Berichterstattung
von „außen" mitgeteilt wurde. Für die Bewohner selbst ist es ungewohnt
geblieben, schriftliche Selbstzeugnisse zu hinterlassen. „Mit dem
Projekt geht es mir darum, der Berichterstattung von Medien und Behörden
erstmals die Eigensicht der Bewohner zur Seite zu stellen", erklärt
Sonja Keil. „Ich freue mich, dass dieses Forschungsprojekt von der TU
Darmstadt wissenschaftlich betreut wird".
In
den Beitrag für die 'Bibliothek der Alten' werden Interviews mit
verschiedenen Bewohnern einfließen. Private Dokumente und Fotografien
sowie persönliche Erinnerungsstücke. Professionelle, seit den 1950er
Jahren entstandene Fotoreportagen ergänzen diese Sicht und dokumentieren
den sich verändernden Blick auf den Platz und seine Bewohner.
Als die
Stadt Frankfurt am Main im Januar 1953 die Ansiedlung der über das
gesamte Stadtgebiet verteilten 220 Wohnwagenbewohner auf einen einzigen
Platz veranlasste, zielte sie zunächst auf deren Zentralisierung ab.
Neben den so genannten Reisenden fanden sich dort auch auf
Trümmergrundstücken lebende Menschen ohne Obdach ein. Der eigentlich als
Provisorium eingerichtete Wohnwagenstandplatz wuchs in der Zeit bis zum
Jahre 1959 auf etwa 850 polizeilich gemeldete Personen an. Die
Entstehung und der stetige Wachstum des Wohnwagenstandplatzes war ein
Symptom der Nachkriegszeit.
Am Stadtrand angesiedelte Schausteller, Artisten, Flüchtlinge,
Landfahrer, Schrotthändler, Obdachlose und auch Sinti und Roma, wurden
mit der Zeit selbst aktiv und halfen sich größtenteils gegenseitig.
Die
Familie des heute 76-jährigen Dieter Gärtner zählt zu einer der ersten
Familien, die sich zwangsweise auf dem Platz einfinden mussten. Dabei
waren dort scheinbar selbstverständliche Lebensbedingungen wie
Grundvoraussetzungen der täglichen Hygiene vorerst nicht gegeben, da
allein zwei Wasserhydranten zur Versorgung des gesamten Gebiets zur
Verfügung standen. In den 1960er Jahren begannen die Bewohner
schließlich, gemeinsam eigene Wasseranschlüsse zu legen. „Dazu haben wir
unsere Bagger genutzt“, so Herr Gärtner, „denn unsere Frauen mussten im
Sommer wie im Winter mit kaltem Wasser die Wäsche waschen“. Erst in den
Jahren realisierte sich endlich der Bau einer Kanalisation.
Auf
kommunaler Ebene findet bis heute eine kontinuierliche
Auseinandersetzung mit Themen wie Wohnungsbau, Bildungsförderung sowie
der Selbstorganisation und Integration von Minderheiten statt. Wo die
Zusammenführung der Wohnwagen und die Unterbringung der Obdachlosen auf
Veranlassung der Kommune anfangs darauf abgezielt hatte, die Menschen
zwar unmittelbar zu beherbergen, jedoch auf lange Sicht aus der Stadt zu
entfernen, hat sich die Stadt Frankfurt mittlerweile die Integration der
Bewohner zum eigentlichen Ziel gemacht. Sozialdezernentin Prof. Dr.
Daniela Birkenfeld unterstützt das Projekt mit 18.900 Euro aus
Spendenmitteln. „Die Biografiearbeit und deren Dokumentation stärken
nicht nur das Selbstwertgefühl der beteiligten Bewohnerinnen und
Bewohner, sie fördern auch das Verständnis und die Akzeptanz einer
breiteren Öffentlichkeit für andere Wohn- und Lebensformen“, sagt die
Stadträtin.
Eine zentrale Rolle im Rahmen dieses Erinnerungsprojekts nimmt das
Diakonische Werk für Frankfurt am Main des Evangelischen
Regionalverbandes ein. Dort ist Sonja Keil seit Anfang 2012 zuständig
für die Gemeinwesenarbeit auf dem Wohnwagenstandplatz. Ihre Tätigkeit
ist dabei so vielseitig wie die Bewohner, mit denen sie in Kontakt
tritt. Auf verständigem Grund gelingt so ein Dialog, in dem Biografien
und Dokumente in Zusammenarbeit mit den Zeitzeugen gewissenhaft
gesammelt und archiviert werden können. „Lebensentwürfe von Menschen,
die nicht dem breiten Mainstream folgen, betrachten wir nicht als
Problemstellung“, so Dr. Michael Frase, Leiter des Diakonischen Werkes
für Frankfurt am Main, „sondern als ein Zeichen von Vielfalt.“
Für Herrn Gärtner bietet das Leben auf dem Platz eine Art der Freiheit:
„Die Menschen hier kennen sich schon jahrzehntelang“, sagt er, „hier
stört sich niemand an dem Anderen.“ Trotz seiner Blindheit hat sich
Dieter Gärtner seinen Lebensunterhalt mit Schrotthandel und
Fahrzeugreparaturen stets selbst verdient.
Das Engagement des Diakonischen Werkes rund um den Wohnwagenstandplatz
und seine Bewohner steht in einer langen Tradition. Bereits seit Mitte
der 1950er Jahre ist die Evangelische Kirche in diesem Gebiet dauerhaft
tätig. Im Jahre 1956 wurde die Betreuung der Wohnwagenkolonie am
Bonameser Weg einem Sozialdiakon übertragen. Dessen damalige Arbeit gilt
als Prämisse für die heutige Form und Prägung der Gemeinwesenarbeit in
der Bonameser Straße und auch ihrer sozialräumlichen Strategie, die sich
ganzheitlich auf das Quartier ausrichtet, um Methoden der Sozialen
Arbeit, des politischen Handelns und der empirischen Sozialforschung
übergreifend miteinander zu vereinen.
Wissenschaftlich betreut wird das Projekt von zwei Professoren der
Technischen Universität Darmstadt, nämlich Herrn Prof. Dr. Rudi Schmiede
im Bereich der Soziologie und Herrn Prof. Dr. Dieter Schott im Bereich
Neueste Geschichte und Zeitgeschichte. Im Projekt selbst kommen Methoden
der qualitativen Sozialforschung zum Tragen, die die Sinnkonstruktion
von Lebenswelten im kulturellen Kontext aus der Perspektive ihrer
Akteure zu erfassen sucht.
Siehe
auch: Die Eigenlogik der
Städte - Neue Wege für die Stadtforschung (2008)
Herausgegeben von Helmuth Berking und Martina Löw im Campus Verlag
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