Verlängert bis 02. Februar 2014

Retrospektive 'Das große Labyrinth' des brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica (1937-1980) im MMK in Frankfurt

Foto: © Kulturexpress

Eine künstlerische Leistung die Oiticica im Laufe seines Lebens hervorbrachte, war die Erweiterung der Malerei, die von der Fläche befreit ist. Form und Farbe wurden in einen dreidimensionalen Raum hinein übertragen. In den 1950er Jahren im Kreis der Grupo Frente in Rio de Janeiro entwickelte er seine Ideen zu einer neo-konkreten Kunst. Diese sollte sich von den schematischen und nach Meinung Oiticicas festgefahrenen Formen der Abstraktion abwenden. Sein Werk reicht dabei von frühen abstrakten Malereien über frei im Raum schwebenden Reliefs, den "Relevos Espaciais" und "Bilaterals", bis hin zu labyrinthartigen Räumen, wovon im MMK wie schon zur Ausstellung zuvor im Frankfurter Palmengarten mehrere Räume nach Originalplänen aufgebaut waren und noch sind.

 

Konkrete Kunst war durch ein Manifest der holländischen Konstruktivisten der 1930er Jahre vorgegeben worden. Diese Kunstform bezieht sich zum Teil auf mathematisch-geometrische Grundlagen, womit sie nicht mehr nur abstrakt ist, sondern mehr oder weniger durch geometrische Konstruktion erzeugt wird.

 

von links nach rechts: César Oiticica Filho, Kurator; Fernando Cocciarale, Kurator; Peter Gorschlüter, Kurator der Ausstellung; Susanne Gaensheimer, Direktorin im MMK, am 26. Sept. 2013 anlässlich einer Presseführung durch die Oiticica-Ausstellung. Dazu ist ein zweisprachiger Katalog, Englisch-Deutsch, bei Hatje und Cantz erschienen, der neben zahlreichen Abbildungen auch Texte und Schriften, 1954-1980, Oiticicas enthält.

Mit seiner konkreten Kunst in Brasilien ist Oiticica einer der künstlerischen Vorreiter, der mit Künstlern wie Joseph Beuys oder einigen nordamerikanischen Vertretern zeitlich später angesiedelt in einer Reihe steht. Die versuchten sich von tradierten Ausdrucksformen in der Kunst zu lösen. Oiticica blieb bisher weitgehend unbekannt im europäischen Kulturraum. Das hängt zum einen mit den enormen politischen Veränderungen zusammen, die das große Land seit seiner Militärregierung in den 1960er Jahren bis hin zu einer Demokratie durchstanden hat. Verbunden damit ist die unentwegte Aufholarbeit, die Brasilien als eigner Wirtschaftsmotor seither an den Tag legte. Trotz aller Widrigkeiten aufgrund der Geographie und der Vielfalt der Völker mit der Brasilien als "Gesundheitslunge der Erde" das Leben bewältigt, hat sich das lateinamerikanische Land in vielen Dingen zu einer konkurrenzfähigen Industrienation entwickelt. Reiche Ölfunde vor der Atlantikküste beweisen das.

 

Lebendiges künstlerisches Schaffen in einer farbenfrohen Welt aus der Natur und Zivilisation hat sich seither entfaltet. Wenn die Kriminalitätsrate bekanntermaßen hoch ist in Südamerika im Gegensatz vielleicht zu den asiatischen Ländern, so ist das Kreativbewußtsein stets unerschrocken und von je her sehr ausgeprägt bei den Brasilianern. Das ist schon daran erkennbar, dass mit der Ausstellung im MMK versucht wird, im Dialog das Publikum einzubeziehen. Das geschieht durch eine Reihe an Happenings. Tänzerische Einlagen, Verkleidungszeremonien, Disco und andere Veranstaltungen zählen dazu. Kunst ist ein Erlebnisball an dem viele beteiligt sein sollen. Das zeigt sich jetzt an der umfassenden Retrospektive von Hélio Oiticica. Im Unterschied zu europäischen Vertretern der konkreten Kunst, die immer wieder eine Neigung zu strengen klassizistischen Elementen beinhalten, gestaltet sich die Kunst Oiticicas wie eine farbenfrohe Messe, die unter freiem Himmel gelebt und zelebriert wird. Ganz nebenbei werden dabei auch funktionale Dinge beachtet. Wenn es darum geht, einen Filmvorführraum für Publikum zu kreieren oder die steilen Treppen zu einer der vielen Favelas zu erklimmen, in denen ein Großteil der Bevölkerung ihr zu Hause hat. Oder mit geringsten Mitteln aus Zeltplane und Bodenmatte veranschaulichte Behausungen mit Schlafplatz einzurichten, was aus jeder anderen Sicht vermutlich sofort die Bauaufsicht und das Gesundheitsamt auf den Plan rufen würde. Im Kontext der Hütten und Favelas erhalten die Bauten einen konstruktiven Zug, weil sich unvermittelt neue Lösungswege aus beengten Lebensverhältnissen eröffnen. Besonders stabil erweist sich dabei eine sternförmige Achse aus Holz, die das Dach einer Behausung bildet, womit zugleich reichhaltiger Aufenthaltsraum im Inneren geboten wird. Die Form erinnert an einen Schirm oder an ein Wagenrad mit Speichen. 

 
Natürlich stellt sich die Frage, inwieweit solche Behausungen vor Schlangen und anderen Kriechtieren eigentlich sicher sind? Von denen es in Brasilien viele gibt. Vermutlich überhaupt nicht! Was zählt, ist die Kunst. Weitere Überlegungen schließen sich daran an.

 

Schon 1964 waren mit "Parangolés" – textile Werke entstanden, die aus farbigen Stoffschichten bestehen und zum Überziehen und Agieren gedacht sind. Zu dieser Zeit begann das Interesse Oiticicas für die organischen Strukturen der brasilianischen Favelas zuzunehmen. Die Straßenkultur ihrer Bewohner, den Samba sowie das Außenseiter-Dasein beeinflusste sein Werk grundlegend und führte ihn zu einem umfassenderen Verständnis der Einheit von Kunst und Leben. Sein bekanntestes Werk "Tropicália", eine begehbare Installation aus Sand, Pflanzen, lebenden Papageien und zeltartigen Behausungen, ist inspiriert von den Favelas in Rio de Janeiro.

 

 

Videos zum Film

Der Dokumentarfilm „Hélio Oiticica“ (Brasilien 2012) von César Oiticica Filho, hatte auf der Berlinale 2013 den Preis der FIPRESCI Jury sowie den Caligari Preis erhalten. Im Dokumentarfilm verzichtet der Filmemacher und Neffe des Künstlers Cesar Oiticica Filho auf Kommentar und Interviews. Stattdessen gelangt in Film- und Tonarchivaufnahmen sein Onkel selbst zu Wort. Aus den Zeugnissen des Künstlers erfährt der Zuschauer etwas über Oiticicas künstlerische Entwicklung und seine umfassenden politischen und ästhetischen Interessen. Seine modernistischen Gemälde und Skulpturen der 1960er Jahre, die Quasi-cinemas und Dia-Environments der 1970er Jahre, über die Favelas und das urbane Leben von Rio, New York und London, über Samba-Schulen und die Tropicália-Bewegung, die Oiticica mit ins Leben gerufen hat. Mit Musikern wie Caetano Veloso und Gilberto Gil wird diese Bewegung jetzt in Verbindung gebracht. Die rhythmisch montierten Bilder illustrieren die Erzählungen des Künstlers und stellen sie in neue Zusammenhänge. Entstanden ist ein Porträt Hélio Oiticicas und seiner Arbeit.

 

Hélio Oiticica Ausstellung im MMK (44 Bilder)

 

 

Siehe auch: Ausstellungen zur Buchmesse zu Ehren des Gastlandes Brasilien in der Stadt

Siehe auch. Hélio Oiticica im Palmengarten Frankfurt

Siehe auch: German Art in São Paulo. Gespräch und Buchpräsentation im MMK

 

Als Beispiel für konkrete Kunst aus jüngerer Zeit kann auch eine vergangene Ausstellung im Mathematikum in Gießen dienen. Siehe: Goldenen Schnitt - Moderne mathematische Kunst: Jo Niemeyer

 

 

Kulturexpress ISSN 1862-1996

vom 04. Januar 2014