Eine künstlerische Leistung die Oiticica
im Laufe seines Lebens hervorbrachte, war die Erweiterung
der Malerei, die von der Fläche befreit ist. Form und Farbe
wurden in einen dreidimensionalen Raum hinein übertragen. In den
1950er Jahren im Kreis der Grupo Frente in Rio de Janeiro
entwickelte er seine Ideen zu einer neo-konkreten Kunst.
Diese sollte sich von den schematischen und nach Meinung Oiticicas
festgefahrenen Formen der Abstraktion abwenden. Sein Werk
reicht dabei von frühen abstrakten Malereien über frei im Raum
schwebenden Reliefs, den "Relevos Espaciais" und "Bilaterals",
bis hin zu labyrinthartigen Räumen, wovon im MMK wie schon
zur Ausstellung zuvor im Frankfurter Palmengarten mehrere
Räume nach Originalplänen aufgebaut waren und noch sind.
Konkrete Kunst war durch ein Manifest der holländischen
Konstruktivisten der 1930er Jahre vorgegeben worden. Diese
Kunstform bezieht sich zum Teil auf
mathematisch-geometrische Grundlagen, womit sie nicht mehr
nur abstrakt ist, sondern mehr oder weniger durch
geometrische Konstruktion erzeugt wird.
von links nach rechts: César Oiticica
Filho, Kurator; Fernando Cocciarale, Kurator;
Peter Gorschlüter, Kurator der Ausstellung;
Susanne Gaensheimer, Direktorin im MMK,
am 26. Sept. 2013 anlässlich einer Presseführung
durch die Oiticica-Ausstellung. Dazu ist ein
zweisprachiger Katalog, Englisch-Deutsch, bei Hatje
und Cantz erschienen, der neben zahlreichen
Abbildungen auch Texte und Schriften, 1954-1980,
Oiticicas enthält.
Mit seiner konkreten Kunst in Brasilien ist Oiticica einer der
künstlerischen Vorreiter, der mit Künstlern wie Joseph
Beuys oder einigen nordamerikanischen Vertretern zeitlich später
angesiedelt in einer Reihe steht. Die versuchten sich von
tradierten Ausdrucksformen in der Kunst zu lösen. Oiticica blieb bisher
weitgehend
unbekannt im europäischen Kulturraum. Das hängt zum einen mit
den enormen politischen Veränderungen zusammen, die das
große Land seit seiner Militärregierung in den 1960er Jahren
bis hin zu einer Demokratie durchstanden hat. Verbunden
damit ist die unentwegte Aufholarbeit, die Brasilien als
eigner Wirtschaftsmotor seither an den Tag legte. Trotz
aller Widrigkeiten aufgrund der Geographie und der
Vielfalt der Völker mit der Brasilien als "Gesundheitslunge der Erde"
das Leben bewältigt, hat sich das lateinamerikanische Land
in vielen Dingen zu einer konkurrenzfähigen Industrienation
entwickelt. Reiche Ölfunde vor der Atlantikküste beweisen
das.
Lebendiges künstlerisches Schaffen in einer farbenfrohen
Welt aus der Natur und Zivilisation hat sich seither entfaltet.
Wenn die Kriminalitätsrate bekanntermaßen hoch ist in
Südamerika im Gegensatz vielleicht zu den asiatischen
Ländern, so ist das Kreativbewußtsein stets unerschrocken und von je her sehr ausgeprägt bei den
Brasilianern. Das ist schon daran erkennbar, dass mit der
Ausstellung im MMK versucht wird, im Dialog das Publikum
einzubeziehen.
Das geschieht durch eine Reihe an Happenings. Tänzerische Einlagen,
Verkleidungszeremonien, Disco und andere Veranstaltungen
zählen dazu. Kunst ist ein Erlebnisball an dem viele
beteiligt sein sollen. Das zeigt sich jetzt an der umfassenden
Retrospektive von Hélio Oiticica. Im Unterschied zu
europäischen Vertretern der konkreten Kunst, die immer
wieder eine Neigung zu strengen klassizistischen Elementen
beinhalten, gestaltet sich die Kunst Oiticicas wie eine
farbenfrohe Messe, die unter freiem Himmel gelebt und
zelebriert wird. Ganz nebenbei werden dabei auch funktionale
Dinge beachtet. Wenn es darum geht, einen Filmvorführraum
für Publikum zu kreieren oder die steilen Treppen zu einer
der vielen Favelas zu erklimmen, in denen ein Großteil der
Bevölkerung ihr zu Hause hat. Oder mit geringsten Mitteln
aus Zeltplane und Bodenmatte veranschaulichte Behausungen
mit Schlafplatz einzurichten, was aus jeder anderen Sicht
vermutlich sofort die Bauaufsicht
und das Gesundheitsamt auf den Plan rufen würde. Im Kontext
der Hütten und Favelas erhalten die Bauten einen
konstruktiven Zug, weil sich unvermittelt neue Lösungswege
aus beengten Lebensverhältnissen eröffnen. Besonders stabil
erweist sich dabei eine sternförmige Achse aus Holz, die das
Dach einer Behausung bildet, womit zugleich reichhaltiger Aufenthaltsraum
im Inneren geboten wird. Die Form
erinnert an einen Schirm oder an ein Wagenrad mit Speichen.
Natürlich
stellt sich die Frage, inwieweit solche Behausungen vor
Schlangen und anderen Kriechtieren eigentlich sicher sind?
Von denen es in Brasilien viele gibt. Vermutlich überhaupt
nicht! Was zählt, ist die Kunst. Weitere Überlegungen
schließen sich daran an.
Schon 1964 waren mit "Parangolés"
– textile Werke entstanden, die aus farbigen Stoffschichten
bestehen und zum Überziehen und Agieren gedacht sind. Zu
dieser Zeit begann das Interesse Oiticicas für die
organischen Strukturen der brasilianischen Favelas
zuzunehmen. Die Straßenkultur ihrer Bewohner, den Samba
sowie das Außenseiter-Dasein beeinflusste sein Werk
grundlegend und führte ihn zu einem umfassenderen
Verständnis der Einheit von Kunst und Leben. Sein
bekanntestes Werk "Tropicália", eine begehbare Installation
aus Sand, Pflanzen, lebenden Papageien und zeltartigen
Behausungen, ist inspiriert von den Favelas in Rio de
Janeiro.
Der
Dokumentarfilm „Hélio Oiticica“ (Brasilien 2012) von
César Oiticica Filho, hatte auf der Berlinale 2013
den Preis der FIPRESCI Jury sowie den Caligari Preis
erhalten. Im Dokumentarfilm verzichtet der
Filmemacher und Neffe des Künstlers Cesar Oiticica
Filho auf Kommentar und Interviews. Stattdessen
gelangt in Film- und Tonarchivaufnahmen sein Onkel
selbst zu Wort. Aus den Zeugnissen des Künstlers
erfährt der Zuschauer etwas über Oiticicas
künstlerische Entwicklung und seine umfassenden
politischen und ästhetischen Interessen. Seine
modernistischen Gemälde und Skulpturen der 1960er
Jahre, die Quasi-cinemas und Dia-Environments der
1970er Jahre, über die Favelas und das urbane Leben
von Rio, New York und London, über Samba-Schulen und
die Tropicália-Bewegung, die Oiticica mit ins Leben
gerufen hat. Mit Musikern wie Caetano Veloso und
Gilberto Gil wird diese Bewegung jetzt in Verbindung
gebracht. Die rhythmisch montierten Bilder
illustrieren die Erzählungen des Künstlers und
stellen sie in neue Zusammenhänge. Entstanden ist
ein Porträt Hélio Oiticicas und seiner Arbeit.