Der DAM Preis geht in
diesem Jahr an ein erfindungsreiches Wohnprojekt junger
Architekten und Architektinnen in der
Messestadt München-Riem: Das San
Riemo ist ein genossenschaftliches
Wohnhaus mit 27 Wohnungen, das die
ARGE SUMMACUMFEMMER BÜRO JULIANE
GREB mit maximal flexiblen
Grundrissen für unterschiedliche und
sich verändernde Lebensformen
entworfen hat. Das Projekt steht
somit im Zeichen einer neuen
Generation, das sich nicht mehr an
den herkömmlichen Standards wie
Wohnzimmer, Schlafzimmer und Kinderzimmer ausrichtet, sondern
versucht, soweit dies technischen
Standards folgend baurechtlich
überhaupt erlaubt ist, neue Formen des Wohnens zu
ermöglichen.
Das in der
relativ jungen Münchner Messestadt
Riem gelegene "San Riemo" ist höchst
innovativ. Die Baugenossenschaft
"Kooperative Großstadt" hatte für
ihr erstes Wohnungsbauprojekt einen
eigenen Wettbewerb veranstaltet, zu
dem es 62 (!) Einreichungen gab. Aus
Kostengründen fiel die
Realisierungsentscheidung zugunsten
des ursprünglich zweitplatzierten
Entwurfs der ARGE SUMMACUMFEMMER
BÜRO JULIANE GREB (Anne Femmer,
Florian Summa, Juliane Greb, Petter
Krag).
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Foto: Petter Krag
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Ästhetisch
überrascht das Gebäude durch eine
Straßenfront mit schlanken
Wintergärten hinter gewellten
Polycarbonattafeln. Vor allem aber
sind in dem Haus durch eine
matrixartige Raumstruktur
unterschiedliche Grundrisse
für verschiedene Lebensweisen
einschließlich gemeinschaftlicher
Flächen möglich. Die DAM-Jury ist
überzeugt: Dieses klug durchdachte
und schon jetzt von den Bewohnern
vollen Herzens angenommene Haus
setzt Maßstäbe in der drängenden
Frage nach der Zukunft des Wohnens –
und entschied den DAM Preis 2022 dem
"San Riemo" zu geben.
Neue
Wohnformen sind gefragt,
gelten aber meist als schwer
durchsetzbar. Wenn München hier eine
Vorreiterrolle zukommt, ist das
zunächst verwunderlich. Ist es doch die Stadt
mit den höchsten Mieten und höchsten
Immobilienpreisen. Dennoch muss sich
die Stadt weltoffen halten, so sind neue Wohn- und
Existenzformen durchaus eine gesuchte
Ware. Das gilt
nicht nur für Künstler oder
Studenten, sondern auch für Familien
mit erweitertem Platzbedarf.
Baurechtlich sieht die Sachlage
oftmals nicht mehr so einfach aus,
wenn plötzlich Wände zwischen den
Räumen entfernt werden, um
Durchgang zu schaffen, der vorher
nicht vorhanden war.
Denn bauliche
Veränderungen von
Gemeinschaftseigentum bedürfen
grundsätzlich der Zustimmung aller
Wohnungseigentümer. Die wichtigste
Frage für die Zusammenlegung zweier
Wohnungen ist, inwieweit es sich
hier eindeutig um Sondereigentum
handelt. Gehören Wohnungen
beispielsweise demselben
Eigentümer und ist dies im Grundbuch
in der Teilungserklärung
auch so festgehalten, kann dieser Eigentümer
innerhalb seines Sondereigentums
bauliche Veränderungen durchaus vornehmen.
Wie sich die baurechtlich
einschlägigen Fragestellungen
konzeptionell auf die Architekten
der Arge ausgewirkt haben, blieb
während der Entwurfsphase zu einem
solch umfänglichen
Wohnungsbauprojekt wie in
München-Riem nicht ganz
unumstritten. Zuvorderst ging es den
Architekten wohl auch darum,
günstigen Mietraum zu schaffen.
Jetzt warten die Preisgewinner
allerdings auf Nachfolgeprojekte,
die unter der Prämisse: Innovatives
Wohnen durchsetzbar wären und bald
folgen dürften.
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Wohnbaumodell
in der DAM-Ausstellung, Foto
(c) Kulturexpress
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Andererseits gibt
es viele Gebäude mit durchaus
ansprechenden Wohnungen im Loft, das
heißt, nicht mehr benötigter
Gewerberaum wird in Wohnraum
umgewandelt, was teilweise mit
baulichen Veränderungen einher geht,
wodurch bisweilen besondere und
einmalige Wohnmöglichkeiten
entstehen. Im Loft zu wohnen hat
seine Reize, wobei diese meist
außerhalb oder am Stadtrand in den
Gewerbegebieten zu finden sind.
Gewerbegebiete wiederum sind
baurechtlich getrennt von
Wohnungsbaugebieten zu betrachten.
Nicht selten finden sich
Mischbereiche, bei denen Wohnungs-
und Gewerbebau im ausgewogenen
Rahmen nebeneinander und in
Koexistenz existieren.
Im Frühjahr 1992
wurde der zu eng gewordene Flughafen
München-Riem geschlossen. Zurück
blieb das leere Flugfeld, das von
weitsichtigen Politikern sowie
Planerinnen und Planern als große
Chance für neues, zeitgemäßes
Wohnen, Arbeiten und Leben mit
Freizeitangeboten in einem
ökologisch geplanten Stadtteil
begriffen wurde. Das Gebiet wurde
zunächst noch als zu weitläufig
empfunden, um ein gemeinsames
Quartiersgefühl zu schaffen. Den
Wandel in der Wahrnehmung und
Attraktivität brachten Baugruppen
und Genossenschaften, die insgesamt
mehr als 500 Wohnungen realisiert
haben.
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Ausstellungsmodell aufgebaut
in den neuen
DAM-Räumlichkeiten des
Interimsgebäudes in der
Henschelstraße im
Frankfurter Ostend |
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Das San Riemo bringt zur
Heinrich-Böll-Straße mit seiner
gläsernen Fassade aus beweglichen
Fenstertüren und einer vorgelagerten
Schicht aus gewellten
Polycarbonatplatten in die
Nachbarschaft mit den sehr streng
gestalteten Häusern eine heitere
Note. Türkisfarbene Deckenplatten,
Vorhänge und Rahmungen der
großformatigen Fenster im
Erdgeschoss unterstreichen diesen
Eindruck. Das Wellenmotiv setzt sich
an den anderen Fassaden mit weißen
Wellblech-Verkleidungen fort. An der
kurzen Südfassade mit auffälligen
dreieckigen Fenstereinschnitten
liegt der Haupteingang. Zum Hof
öffnet sich das Erdgeschoss mit
ungewöhnlich niedrig eingesetzten
Fenstern, die Kinder als Ein- und
Ausstieg nutzen können.
Im Erdgeschoss befindet sich eine
Gewerbefläche. Dahinter, vom
Haupteingang erschlossen, ist der
gemeinschaftlich genutzte Teil des
Erdgeschosses. Von den Bewohnern
"Lobby" getauft, ähnelt der Bereich
einer überdachten Spielstraße. Sie
bietet mit einer Gemeinschaftsküche
und einer Werkstatt
Impulse für gemeinschaftliches Tun
im alltäglichen Zusammenleben.
Waschmaschinen und Abstellflächen in
einer Hochregalwand verschwinden
hinter sonnengelben Vorhängen. Das
Pendant zur Foyerhalle ist obenauf
der Dachgarten mit Hochbeeten und
Sommerküche.
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Foto: Petter Krag
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Foto: Florian Summa
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Das einfache konstruktive System
bietet eine hohe Flexibilität für
interessante Grundrisse. Für die
Wohnungen wurden drei Typen
definiert: das sogenannte Basis-,
das Filial- und das Nukleuswohnen.
Ersteres entspricht am ehesten einer
konventionellen Wohnung. Beim
Filialwohnen sind die privaten Räume
etwas kleiner; die gewonnene Fläche
wird gemeinschaftlich genutzt. Das
Nukleuswohnen ist die
experimentellste Wohnform im Haus:
Mehrere Wohnungen geben Flächen in
einen "Pool", dessen Nutzung neu und
wechselnd definiert werden kann.
Jede Partei behält aber auch einen
individuell bewohnten Nukleus. So
entsteht bewegliche Fläche, die
untereinander je nach Bedarf dazu
genommen oder abgegeben werden kann.
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Erste
Preisträgerin Anne Femmer
beschreibt Nukleuswohnen
anhand der auf dem Wandbild
abgebildeten Schemata, Foto
(c) Kulturexpress
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Entlang der West- und Ostfassade
befinden sich nutzungsneutrale,
gleich große Räume. In der Achse
dazwischen sind die beiden
Erschließungskerne, die
Sanitärzellen und gemeinschaftliche
Ess-Kochbereiche platziert. So
entstehen durchgesteckte Familien-
oder Gemeinschaftswohnungen. Durch
das Zusammenschalten mehrerer
neutraler Raumzellen an den Seiten
können weitere größere,
gemeinschaftlich genutzte Bereiche
entstehen. Die schmalen
Wintergartengalerien im Westen
werden sehr vielseitig genutzt.
Insgesamt bestimmen Sichtbeton und
graue Estrichböden die
Grundausstattung.
Die beiden Treppenhäuser sind in
kräftigem Lila und sattem Himmelblau
gestrichen. San Riemo hat Mut zu
neuen Wohnformen bewiesen und mit
Leben gefüllt. Die Jury des DAM
Preis 2022 ist davon überzeugt und
begeistert.
Siehe auch:
Anne Lacaton und Jean-Philippe
Vassal erhalten den
Pritzker-Architekturpreis 2021
Siehe auch:
Münchner Wohnbauprojekt Van B von
UNStudio
Siehe auch:
DAM Preis 2022 geht an
Wohnbauprojekt in München-Riem