Frankfurt am Main ist
bisweilen impulsiv. Das liegt an der
Mentalität, die in der Stadt
herrscht. Manchmal besteht der Hang
zur Selbstüberschätzung, gerade wenn
es um Fußball geht. Doch das sei den
Frankfurtern verziehen. Höhen und
Tiefen liegen dicht beieinander. Die
Entwicklung der Stadt insgesamt ist
wirklich erstaunlich, was in den
1970er Jahren noch chaotisch wirkte,
hat eine Wendung um 180 Grad
genommen, hin zu einer Stadt im
Dienstleistungssektor. Damit einher
geht die Stadtentwicklung, die mit
neuen Bauten neuen Schub bekommen
hat und weiterhin wächst. Die
Umwandlung von Wohnraum zu einem
Spekulationsobjekt für
Immobilieninvestoren ist schon lange ein Problem, das ethisch nicht
vertretbar ist.
Dass die Stadt deshalb am Glücksrad
gedreht haben soll, halte ich für
unwahr. Soziale Brennpunkte sind
immer noch brandaktuell, wie nicht
zuletzt die vorliegende Publikation
aus dem transcript Verlag beweist.
Was bisher passierte, geschieht wohl
nicht ohne die Politik von oben. Die
Frankfurter haben anscheinend einen
Draht nach oben. Ein Grund ist die
eigenständige Haltung, weshalb die
Nazis in der Stadt niemals richtig
Fuß fassen werden. Der Spagat
zwischen purer Selbstüberschätzung
und geografischer Bodenhaftung dank
mittelalterlicher Handelsrouten als
Durchgangsstation an denen sich alle
Wege kreuzen, verhindert so manch
unliebsames Extrem rechter
Gesinnung. Dafür kann man wirklich
dankbar sein.
Während der Teilung Deutschlands
sind viele Berliner nach Frankfurt
gezogen. Grund war, dass sie in
ihrer Heimatstadt die Teilung nicht
aushielten. In Frankfurt herrschte
von je her ein gewisses
freiheitliches und geistig
zuträgliches Klima, welches trotz
aller Provinzialität dazu führte,
dass viele Berliner vor der Wende in
Frankfurt ansässig wurden. Ein
wertvoller Schatz, wie ich finde,
denn Berlin ist urbanes Vorbild
damals wie heute. Eine Alternative
bietet die Stadt Köln mit ähnlich
geistigem Klima wie Frankfurt am
Main nur ein wenig eingetrübt durch
die dauerhafte Religiosität, die
dort seit dem Altertum die Stadt ihr
zu Hause nennt. Auch Hamburg zählt
zu den Städten, die für Berliner vor
der Wende als Wohn- und Lebensort in
die nähere Auswahl kamen. Die Stadt
im Norden verfügt über ein ebenso
waches geistiges Klima, welches den
Menschen aus der Not einer geteilten
Stadt heraus durchaus behaglich
erschien.
Mit "Frankfurts Aufstieg zur
Global City" umreißt Klaus
Ronneberger die Problematik der
Globalisierung. Er zitiert den
US-amerikanischen Global-City
Forscher John Friedmann, wonach
urbane Großregionen durch ein
Geflecht von Netzwerkstrukturen
organisiert sind und die räumliche
Konzentration von ökonomischen
Aktivitäten bei der Bewältigung des
Managements Hilfe leisten. Gewiss, die Zeiten haben sich
geändert, mittlerweile befindet sich
Frankfurt tatsächlich in einem Runaway auf dem Weg zu einer
Globalisierungsmetropole, das sorgt
für Veränderungen mental und
ökonomisch. Die Stadt ist nicht mehr
so wie sie früher war. Ich fand, es
war abenteuerlustiger. Die Menschen
waren zugänglicher als sie es heute
sind trotz der ethnischen
Vielgestaltigkeit, die eine Zunahme
an Menschlichkeit erwarten ließe.
Früher konnte man wenigstens Freunde
finden, das geht heute fast gar
nicht mehr, zu sehr sind die
Egoismen gewachsen globaler
Mitstreiter sein zu wollen. Die
Möglichkeit des Intimen fehlt
einfach. Wie sang noch Franz Josef
Degenhardt: Spiel nicht mit den
Schmuddelkindern, geh doch in die
Oberstadt, mach's wie deine Brüder.
Das Schmuddelige ist zum Tabu
geworden, nicht erst seit Corona
Einzug gehalten hat. Beziehungsweise
die existenzielle Fähigkeit eine
Beziehung zu dieser Schmuddeligkeit
aufzubauen, ist verloren gegangen.
Meiner Meinung findet immer stärker
eine Form der Abgrenzung statt,
notgedrungen als Konsequenz aus der
Überforderung, welche durch
Globalisierungseffekte entsteht.
Welche Blüten das noch treibt, ist
fraglich. Jedenfalls Familie allein
kann nicht mehr Hauptgrund sein, um
Geschlossenheit zu demonstrieren.
|
|
Wildes Frankfurt - Nilgans auf dem Dach,
März 2021
Foto (c) Kulturexpress |
|
Frankfurt liegt in der Mitte, so
dass der kluge Mensch weiß, es ist
ratsam, nach allen Seiten hin die
Türen offen zu halten. Kleinkariert
empfinde ich Frankfurt jedenfalls
nicht. Die Stadt an sich erfüllt
alle ihre Bedingungen. Große Städte
und deren Vororte werden häufig als
Planetensystem bezeichnet, einem
Raum mit Trabanten die um einen
gemeinsamen Mittelpunkt kreisen.
Vergrößerung dieses Raumes ist das
Rhein-Main Gebiet, eine sinnvolle
Erfindung, das gleich über mehrere
Zentren verfügt. Nur so kommen viele
Orte zusammen, die drumherum liegen.
Die Illusion von Wasser gibt es in
Frankfurt nicht so sehr und wenn,
nur gechlort, das kann ein Mangel
sein. Es gibt den Feldberg im Taunus, eine Art
Hausberg der bei genauer Betrachtung
fast majestätisch anmutet vor den
Toren der Stadt. Wie die
Steinzeitmenschen diesen Anblick des
Feldbergs vor den Toren der Stadt
wohl erlebt haben? Es gibt die
internationale Messe, zu der schon
Johannes Gutenberg gereist ist, um
seine Erfindung der Buchdruckerkunst
mit austauschbaren Metalllettern
einem interessierten Publikum
vorzustellen. Eine gewisse Liebe für
das Spektakuläre ist den
Frankfurtern durchaus eigen.
Künstlerisch und kulturell geht es
in der Stadt nicht so hoch her.
Andere Städte wie München oder
Berlin hatten ihre Sezessionen, so
etwas gab es in Frankfurt nicht.
Bedingt durch die Rolle als
Industriestandort kam die Stadt in
diesen Dingen meist nicht über
zaghafte Versuche hinaus und verlor
sich dann in ökonomischem
Pragmatismus, der von einer
unangenehmen Gehässigkeit geprägt
ist, was für jede Kunst letztlich
tödlich ist. Der Buchbeitrag
"Frankfurt als Ort
post-industrieller
Arbeitsverhältnisse" von Peter
Lindner und Stefan Ouma erklärt, wie
viele Personen in der Vergangenheit
vor allem im produzierenden Gewerbe
tätig waren. Doch auch das
post-industrielle Frankfurt wusste
sich dank kommunikativen Handelns zu
helfen, indem die Stadt neben
Zeitarbeit und Digitalisierung
kulturelle Hilfe von außen
anfordert. Hier wären das an
bestimmten Lokalitäten eingeführte südländische Flair
innerhalb der Stadtgrenzen als
Helfer von außen zu benennen. Gleich
mehrere der Beiträge befassen sich
am Beispiel der Stadtteile Ostend
und des Gallus-Viertels mit dem Thema Gentrifizierung
an den jeweiligen Standorten. Anhand
der Stadtteile Sossenheim und
Westhausen wird aufkommendes
Prekariat näher beleuchtet.
Stadtentwicklung ist immer auch von
sozialen Kämpfen begleitet. Die
Autoren dieses Bandes beleuchten aus
der Perspektive der Wissenschaft,
sozialer Bewegungen und
zivilgesellschaftlicher Initiativen
aktuelle Konfliktfelder in der
Global City Frankfurt am Main und
diskutieren anschaulich, welche
strukturellen Bedingungen,
gesellschaftliche Kräfteverhältnisse
vorhanden sind und welche Akteure
die Mainmetropole prägend
beeinflussen. Sie analysieren, wie
neoliberale und autoritäre Tendenzen
aufkeimen und sich fortentwickeln.
Solidarische und demokratische
Fragestellungen innerhalb der Stadt
sollen aufgezeigt werden.
Themen
und Konfliktfelder
Frankfurts Aufstieg zur
Global City
Klaus Ronneberger 23
Frankfurt als Ort
post-industrieller
Arbeitsverhältnisse?
Peter Lindner und Stefan
Ouma 35
Frankfurts
Stadtentwicklung –
nachhaltig für alle?
Café 2Grad Frankfurt
45
Der Stachel des
Widerspruchs:
Wohnungspolitik und soziale
Kämpfe in Frankfurt am Main
Sebastian Schipper und
Susanne Heeg 53
Bodenpreise und
Bodenpreispolitik in
Frankfurt/Rhein-Main
Bernd Belina 67
Arm und Reich in der
Stadtregion. Was sagen die
Zahlen und was nicht?
Christian Stein 79
Zermürbend, abschreckend,
desintegrierend: Frankfurts
Politik gegen Obdachlose
Benjamin Böhm 89
ÖPNV für alle? Soziale
Aspekte und aktuelle
Verschiebungen im Kontext
von Fahrkarten und Tarifen
Stefanie Schwerdtfeger
99
»Nur ‘n bisschen chillen?!«
– Eigensinnige Raumaneignung
als Konflikt
Yagmur Mengilli 111
Wildes Frankfurt –
Nilgänse im Fokus räumlicher
Konflikte
Elisa Kornherr und Robert
Pütz 121
Orte und Stadtteile
Sex, Drogen, Alkohol –
umkämpfter öffentlicher
Raum im Bahnhofsviertel
Jenny Künkel 133
Die gespaltene Stadt und
das Erstarken der AfD. Eine
Spurensuche im Riederwald
und in Nied
Daniel Mullis 141
Drogenhandel in der
Frankfurter Platensiedlung –
Entmietungspraxis einer
städtischen
Wohnungsbaugesellschaft
Luise Klaus und Bernd
Werse 155
Die neue Altstadt:
Erlebnis, Erinnerung und
Wirtschaft. Ein Rundgang
Lidia Monza 165
Gentrifizierung im Ostend.
Stadtpolitisch forcierte
Aufwertung und Verdrängung
Andrea Mösgen und
Sebastian Schipper 179
Gentrifizierung im
Gallus. Ein
polit-ökonomischer
Spaziergang durch das
ehemalige Arbeiter*innenviertel
Tjark Albrecht, Johanna
Betz und Tabea Latocha
191
Orte der Prekarisierung:
Wohnen am ›Rand‹ der Global
City. Das Beispiel
Sossenheim
Tabea Latocha 207
30 Jahre
Lesbisch-Schwules
Kulturhaus: Queere
Stadtgeschichte in der
Klingerstraße
Julia Bieber, Franca
Feil, Carolin Mezes,
Katharina Müller und Kathrin
Schleich 221
Leseprobe... |
|
Ein Gespräch über das
Autonome Frauenhaus als
feministischer Ort
Hilke Droege-Kempf, Doris
Feld und Stella Schäfer
231
Drahtseilakt: Der ewige
Kampf um den Erhalt der
eigenen Lebenswelt von
Schausteller*innen,
Zirkusangehörigen und
reisenden Händler*innen
Sonja Keil 243
ÜberLeben in der AUtopie –
von Liebeskummer & Vietcong
Billy Setzer 253
Wem gehört nochmal die
Stadt? Der Campus Bockenheim
und der sehr langwierige
Versuch einer Rückeroberung
des Raums
Tim Schuster 267
›Faites Votre Jeu!‹
Stadtpolitische Kämpfe für
ein kulturpolitisches
Zentrum oder: Wie eine
Hausbesetzung im Knast endet
Initiative ›Faites votre
jeu!‹ 277
Zufluchtsort Frankfurt?
Leben in der
Sammelunterkunft
Martina Blank und Soliana
Hannes 285
Kämpfe und Initiativen
Racial Profiling und
antirassistischer
Widerstand:
›We look out for each other
‹
Copwatch FFM 297
Project Shelter: Practices
of Solidarity between
visions of liberation and
boundaries of integration
Project Shelter 309
Unterbrechungen in der
Global City. Arbeitskämpfe
im Baugewerbe und am
Flughafen
Karin Zennig 319
Die Stadt gehört nicht
allen! Roma in Frankfurt
Gabi Hanka 329
»Sich Räume einfach nehmen«:
Raven als Widerstandspraxis?
Luise Klaus und Jennifer
Martens 341
Tower to the People?
Verdrängung durch
Modernisierung. Erfahrungen
aus dem Brentano-Hochhaus in
Frankfurt Rödelheim
Conny Petzold und Anna
Steenblock 351
Ein Erfolgsmodell: Die
Nachbarschaftsinitiative
Nordend-Bornheim-Ostend (NBO)
Jürgen Ehlers 363
Frankfurt Westhausen –
prekäres Wohnen und Prozesse
politischer Kollektivierung
Falk Künstler 373
Mietentscheid Frankfurt:
Direktdemokratisch für
mehr bezahlbaren Wohnraum
Lisa Hahn und Luca
Hemmerich 383
Hausbesetzungen –
Mietstreiks – ›Häuserkampf‹.
Urbane Kämpfe in Frankfurt
1970 bis 1975
Rolf Engelke 393
Die feministische ›Stadt für
alle!‹: Über Alltag,
Sorgearbeit und die
Verbindung von Kämpfen
Anna Lisa Jakobi, Jana
Bleckmann und Jan Kordes
411
»Den Nazis auf die Pelle
rücken« – Bedeutung und
Geschichte des
Antifaschismus in Frankfurt
P.M. Banane und Frieder
Kahlo 423
Autor*innenVerzeichnis 441
|
Frankfurt am Main – eine Stadt für
alle? transcript Verlag
Frankfurt
am Main - eine Stadt für alle?
Konfliktfelder, Orte und soziale
Kämpfe
(Hg.) Johanna Betz, Svenja Keitzel,
Jürgen Schardt,
Sebastian Schipper, Sara Schmitt
Pacífico u. Felix Wiegand
transcript Verlag, Bielefeld
1. Auflage, 2021
Softcover, 450 Seiten,
zahlr. Abb., Diagramme u. Grafiken
Größe: 15.5 x 2.7 x 23.8 cm
ISBN: 978-3-8376-5477-6
auch als eBook:
ISBN: 978-3-8394-5477-0
Siehe auch:
Ende offen: Der Weg des Menschen aus
der Steinzeit in die Zukunft (2020)
von Peter Strauß