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Wandfassade mit Ausstellungsplakat |
Ausstellungen haben
die Aufgabe neue Perspektiven auf
einen Künstler zu werfen, die bisher
verborgen geblieben sind und
das künstlerische Werk in einen
neuen Kontext zur Gegenwart setzen.
Dies dürfte bei Paula
Modersohn-Becker nicht schwer
fallen, so vielfältig und modern ist
ihr Oeuvre geblieben auch für die Menschen
heutzutage. Besonders
angetan haben es mir ihre
Kinderbilder. Sie hat so viele davon
gemalt, wodurch der Eindruck
entsteht, sie habe einen besonderen
Fabel dafür gehabt. Doch was erzählt
die Ausstellung neues über die
Künstlerin und weshalb waren Schirn
und Kuratorin dazu entschlossen,
eine Retrospektive in Frankfurt zu
eröffnen?
Ein besonderer Wert im Schaffen
bei Paula Modersohn-Becker (1876 -
1907) liegt auf
der Darstellung des Menschen und
seinem Bildnis. Häufig kommen
Selbstporträts der Künstlerin vor,
die eines ihrer wichtigsten
künstlerischen Experimentierfelder
sind und den Anfang der Ausstellung
in der Schirn bilden. Viele der
Bilder sind kleinformatig, so dass
viel Raum im Ausstellungssaal der
Schirn übrig bleibt. Der Hintergrund
der Ausstellungswände liefert dann
ein monotones, dunkles Blaugrün oder
an anderer Stelle ein mattes
Kaffeebraun, was
die psychische Komponente bei vielen
der Bilder verstärkt.
Die Motive bei Paula
Modersohn-Becker haben eine starke
innere Ausprägung bewahrt und das
bis auf den heutigen Tag. Sicherlich
ist ihr auch eine starke feminine
Haltung zu Gute zu halten, die um
die Jahrhundertwende um 1900 noch
nicht üblich war, sondern erst
aufzukeimen begann und vor allem das
20. und das 21. Jahrhundert
prägen. Die Abstände zwischen den
meisten Exponaten ist weit
voneinander entfernt gehalten, so
als wäre auch hier die Abstandsregel
eingehalten worden.
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Zwei
Selbstportraits |
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Kinder
mit Laternen vor Haus |
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Die Auswahl an Bildern malerischer
und stilistischer Werkgruppen, die
ihre gesamte Entwicklung spiegeln,
dienten ihr auch als fortwährender
Akt der künstlerischen
Selbstvergewisserung. Das dürfte bei
vielen Künstlern ähnlich gelagert
sein. Bereits in dem
frühen Selbstbildnis um 1898 wird
ihre zentrale malerische Methode
sichtbar: die Nahsicht. Das Bildfeld
wird komplett ausgefüllt, indem das
Gesicht der Künstlerin nah
herangerückt ist. Während ihres
zweiten Aufenthalts in Paris 1903
fand Paula Modersohn-Becker dann in der
Frontalität eine Form der
Verallgemeinerung, die in der
Verbindung von direkter Nähe und
zeitlosen Elementen ihren
künstlerischen Bestrebungen
entsprach und die sie u.a. in
Selbstbildnis mit weißer Perlenkette
(1906), Selbstbildnis mit rotem
Blütenkranz und Kette (1906/07) oder
Selbstbildnis mit Zitrone (1906/07)
aufgriff.
Auch die pastose Malweise der in der
Technik der Enkaustik angefertigten
und mit dem Spachtel aufgetragenen
antiken Vorbilder prägte
das Schaffen der Künstlerin. Ab 1898
und vermehrt ab 1902 bevorzugte sie
eine besonders matte Tempera, deren
Oberfläche sie in einigen Fällen mit
dem Pinselstiel bearbeitete. Mehr
als die Hälfte ihrer Selbstporträts
entstand 1906/07, als sie sich von Otto Modersohn
getrennt in
Paris aufhielt und ihren Weg als
Künstlerin suchte. Sieben davon
zeigen die Malerin halb oder ganz
entkleidet. Eine Sonderrolle nimmt
das Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag
(1906) ein, der erste bekannte
Selbstakt einer Künstlerin, was zum
Zeitpunkt der Entstehung nicht
ausstellungswürdig war. Das komplexe
Werk der Künstlerin liefert zahlreiche Anspielungen
auf kunsthistorische Vorläufer und
deutet diese zu einer um 1900
äußerst gewagten Selbstdarstellung
um. Nackt und mit angedeuteter
Schwangerschaft stellt sich
Paula Modersohn-Becker selbstbewusst und
feminin dar.
Viele Figurenbilder von ihr haben eine
unverwechselbare Mischung aus Nähe
und Distanz, aus Naturalismus und
Symbolhaftigkeit, mit der diese auf
die Ebene des über die Zeit hinaus
reichenden und Allgemeingültigen
gehoben werden. Diese
Darstellungsweise charakterisiert
auch ihre einzigartigen
Kinderbildnisse sowie ihre
Mutter-Kind-Bilder. Mit insgesamt
über 400 Arbeiten von meist
bäuerlichen Kindern bilden diese innerhalb
ihres Oeuvres die größte
Gruppe. Die Auswahl an Kindermotiven
in der Schirn verdeutlicht, mit
welch großer Intensität sich die
Künstlerin diesem im späten 19.
Jahrhundert besonders beim
bürgerlichen Publikum beliebten
Sujet widmete. Man denke nur an die
Kinderbilder von Philipp Otto Runge,
die ein Aufbegehren des Bürgertums
zum Inhalt haben, was mit
der damit verbundenen freiheitlichen
Kindererziehung einhergeht. Die
Auswahl der Exponate in der Schirn
lassen keine Zweifel an der
Authentizität der Künstlerin
aufkommen.
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Kind an der Mutterbrust und Mädchenkopf |
Die Fokussierung auf die nur
kleinformatigen Motive halte ich für
zu begrenzt bei der Betrachtung.
Andererseits ist die Schlichtheit
gewollt. Denn ihr Schlichtsein
überzeugt. Mein Bedürfnis jedoch
wäre, diese kleinen Bilder stärker
im Kontext zur Wirklichkeit und zu
ihrer Heimat in Worpswede verstehen
zu lernen, wo viele der Bilder ihren
Ursprung haben. Dieser Aspekt wurde
meiner Meinung nicht genug beachtet
in Frankfurt. Zu dieser Landschaft
gehört das Moor ebenso wie
vereinzelte Bäume am Wegesrand. Dazu
zählt das Dorf und seine Bewohner,
die Gemeinschaft, die Bauern auf dem
Feld und die Früchte die geerntet
werden. Die Wallungen auf den
Gesichtern in den Bildern, die von
der täglichen Arbeit der Menschen
berichten und ein tiefes mentales
Zeugnis von der Individualität der
Personen ablegen, so wie sie Paula
Modersohn-Becker gemalt hat. Davon
erfährt der Betrachter nur etwas
beim näher Herantreten und beim
Studieren der kleinen Bilder.
Andererseits, wer hätte geahnt, dass
diese Bilder jemals einen so großen
Rahmen finden werden, wie sie die
Räume der Frankfurter Schirn bieten.
Diese Gemälde wirken vielmehr so,
als wären sie für kleinere
Behausungen gemalt, in der Stube
hängend oder in einer kleinen
Galerie versammelt.
Manche der Formate sind größer.
Damit sind besonders lebensgroße
Akte gemeint, gezeichnet oder
gemalt, deren Qualität durchaus
einen akademischen Hintergrund bei
Paula Modersohn-Becker vermuten
ließen, den sie jedoch nicht ohne
weiteres hatte, den sie erst auf den
Reisen nach Paris oder vorher bei
ihrem Mann dem Maler Otto Modersohn
erfuhr. In Paris nahm sie regelmäßig
Unterricht im Aktzeichnen an den für
Frauen zugänglichen Akademien von
Colarossi und Julian. Somit zähle
ich die Reisen nach Paris zu einer
der Hauptleistungen, die sie
vollbracht hat, fort aus der Heimat
zu gehen, um zu neuen Ufern
aufzubrechen. Das hat viel
Schweißblut gekostet und vielleicht
auch ihr das Leben, geplagt von
inneren Zweifeln zu sein und dann
doch wieder Mut zu schöpfen, von
neuem den inneren Plan in Angriff zu
nehmen, um zu malen. Paula – Mein
Leben soll ein Fest sein, ist ein
biografisches Filmdrama aus dem Jahr
2016 von Christian Schwochow über
die früh verstorbene Malerin Paula
Modersohn-Becker, der sich besonders
den Pariser Jahren der Künstlerin
widmet und deren Lebensverhältnisse
dort.
Während der Presskonferenz am 7.
Oktober in der Frankfurter Schirn
erhob die Kuratorin Dr. Ingrid
Pfeiffer den Vergleich der Bilder
von Paul Modersohn-Becker mit jenen
von Mark Rothko, der ausschließlich
abstrakt in seiner Malerei ist und
in Schichtungen Farbe aufträgt, was
von einer unglaublichen Selbstruhe
getragen ist gepaart mit der
aurabehafteten Wärmeausstrahlung
seiner Bilder, obwohl diese in den
buntesten Farben kreiert wurden.
Wärme und Farbigkeit finden sich
auch bei Paula Modersohn-Becker. In
den Gesichtern der Menschen pulsiert
die Hitze, die ihnen durch die
tägliche Arbeit bis in den Kopf
gestiegen ist. Von Infrarotaufnahmen
zu sprechen wäre viel zu technisch
gedacht und würde das Werk falsch
interpretieren. Die Intensität wie
sie das kleinformatige Portraitbild von
Rainer Maria Rilke ausstrahlt, ist
nahezu unbeschreiblich, aber gerade
dieses Bild habe im Zusammenhang mit
dem Dichterfreund eine hohe
Popularität erreicht. Demnach gilt, hier weiter zu suchen, was dieses Werk auszeichnet, das durch
seine Schlichtheit glänzt, aber
absolut nicht naiv oder primitiv
aufgefasst ist.
Zur Ausstellung ist ein
umfangreicher Katalog im Hirmer
Verlag und zusätzlich ein
Begleitheft für den pädagogischen
Gebrauch erschienen. Der Katalog mit
Beiträgen von P. Demandt, S. Ewald,
A. Havemann, I. Herold, I. Pfeiffer,
K. Schick, R. Stamm und W. Werner,
220 Seiten, 180 Abbildungen in
Farbe, 24 x 29 cm, gebunden, ISBN:
978-3-7774-3722-4