Manche
Gebäude können ganz allgemein
Ausdruck der Verödung und
Trivialisierung einer Umgebung sein.
Andererseits können sie aber auch
eine Aufwertung der baulichen
Umgebung bedeuten, das hängt davon
ab, welche Qualitäten an ihnen
thematisiert werden. Die Beiträge
dieses Bandes "Betrachtungen der
Architektur" herausgegeben von Tim
Kammasch aus dem transcript Verlag
unternehmen den Versuch, um einen
Zugang zu Gebäuden und baulichen
Umgebungen zu erlangen. Sie nehmen
damit sprachliche Formen der
Betrachtung von Architektur auf. In
Anknüpfung an die spätantike Rede-
und Textgattung der Ekphrasis werden
konkrete Bauwerke als Objekt der
Reflexion in den Blick genommen und
ausgehend von ihrer Beschreibung der
lebensweltlichen Bedingungen und der
Kulturwert von Architektur erörtert.
Elf Bauwerken sind je
zwei Betrachtungen zugeordnet, die
einen Beschreibungs- und
Interpretationsansatz beinhalten und
in ihrer Gegenüberstellung eine
Abhängigkeit vom jeweiligen
Beschreibungsansatz verdeutlichen.
Die Bauwerke wurden so ausgewählt,
dass bei ihrer Betrachtung
unterschiedliche Aspekte
lebensweltlicher Bedingungen zur
Sprache kommen. Im Anhang werden sie
zudem durch Bilder, Pläne und
Schnitte dokumentiert.
Den Beiträgen innerhalb der Reihe
"Architektur Denken" liegen Vorträge
zugrunde, die im Rahmen zweier
Ringvorlesungen zum Thema "Vom
kulturellen Mehrwert der Architektur
- Versuche in Ekphrasis" gehalten
wurden. Damit soll einem
holistischen Verständnis von
Architektur als auch dem
didaktischen Ansatz innerhalb der
Entwurfsphase Folge geleistet
werden, aber auch um damit dem
Anspruch nach mehr
gesellschaftlicher Relevanz in
Verbindung von Theorie und Praxis
förderlich zu sein. Nach WIkipedia
kommt Ekphrase aus dem Griechischen,
ist eine literarische bzw.
rhetorische Form, durch welche ein
Gegenstand aber auch Handlungen oder
Landschaften sehr anschaulich und
bildlich beschrieben werden und dem
Betrachter durch Imagination vor
Augen gestellt werden. Im heutigen
Gebrauch wird die literarische
Beschreibung eines Werks der
bildenden Kunst häufig als Ekphrase
bezeichnet. Doch gilt diese
umgedeutete Verwendung des Begriffs
innerhalb der kunsthistorischen
Forschung auch als umstritten. Der
Grad der Anschaulichkeit
unterscheidet die Ekphrase dabei vom
sachlichen Bericht. Es handelt sich
somit um eine literarische
Visualisierungsstrategie, die
versucht Leser oder Zuhörer zum
Zuschauer zu machen, womit eine
synästhetische, ganzheitliche
Erfahrung suggeriert werden soll.
Ekphrase verharrt damit stets in
einem Spannungsfeld zwischen
Betrachtung und Ästhetik.
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Im
Hintergrund das
Roche-Hochhaus in Basel, das
sich im November 2014 gerade
in Bau befand, Foto (c)
Kulturexpress |
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Die Autorinnen und Autoren des
vorliegenden Bandes haben die
ausgewählten Bauwerke vor Ort
aufgesucht, um ihre Betrachtungen
anzustellen. Im Gegensatz zur
methodischen Alleingültigkeit der
metrischen Erfassung der
Wirklichkeit, wobei nur das zählt,
was in Zahlen darstellbar ist,
versuchen sich die Betrachtungen im
Sinne Walter Benjamins mit „zarter
Empirie“ zu Denkbildern
vorzuarbeiten, sie ergeben das, was
nach Hugo von Hofmannsthal noch
nicht geschrieben wurde zu lesen.
Gebaute Realität ist im übrigen viel
zu facettenreich, als dass nur eine
einzige richtige Sicht der Dinge an
ihr erlaubt wäre. Anschaulich
vermitteln Grundrisse, Schnitte,
Ansichten und Fotos im Anhang des
Bandes die beschriebenen Bauwerke.
Das erleichtert die Imagination und
eine bildhafte Vorstellung des
Objektes erheblich.
Die Betrachtungsweisen im Buch
folgen einer ausgesprochen
geisteswissenschaftlichen
Grundhaltung und der Aufforderung
nach mehr Reflexion, was dies jedoch
für die Praxis auf dem Bau bedeutet,
sei dahingestellt. Denn die
Lebenswirklichkeit auf den
Baustellen der Umgebung und deren
Lebenswelten werden nicht unbedingt
thematisiert und bleiben somit
unbeantwortet. Wie sieht es zum
Beispiel mit Produktneuheiten aus?
Es bleibt offen, inwieweit zwei
aufeinanderfolgende Betrachtungen
ein und desselben Bauwerks einer
Systematik folgen oder welche
Wechselwirkung sie aufeinander
eingehen. Ich habe nicht den
Eindruck, dass ein Dialog von einem
Text zum anderen gefordert wurde,
etwa im Sinne einer Dichotomie oder
in Form von These zu Hypothese. Am
Beispiel des Bürogebäudes in Basel,
das Roche-Hochhaus, versucht sich
einer der Autoren, Axel Christoph
Grampp mit dem Kunsthistoriker Erwin
Panofsky und dessen Methodik der
Bildbeschreibung, was aus
architektonischer Sicht nicht
unbedingt ein passender Interpret
ist. Grampp unternimmt wenigstens
den Versuch und erklärt ergänzend,
dass sein Modell der Bildenden Kunst
erst auf die Architektur übertragen
werden müsse. Der andere Beitrag zum
gleichen Gebäude ist von Rainer
Schützeichel, der Möglichkeiten der
Interpretation aus den Bereichen
Psychologie und Ökonomie aufnimmt,
indem er den Roche-Turm in Basel als
ein Symbol der männlichen Macht
interpretiert und
Stadtverträglichkeit und
wirtschaftliche Notwendigkeit des
Bauvorhabens ausdrücklich zu
hinterfragen versucht. Eine
Bezugnahme des einen Autors auf den
Beitrag des anderen findet jedoch
nicht unmittelbar statt, ein
abschließend gemeinsames Fazit in
Bezug auf das jeweilige Gebäude der
Betrachtung kann deshalb nicht
gezogen werden.
Leseprobe...
Elf Bauwerke, zweiundzwanzig
Betrachtungen
1 Wohnhaus: Haus Faraday,
Bern
2 Wohnkomplex: Pallasseum, Berlin
3 Siedlung: Zwicky Süd, Dübendorf
4 Schulanlage: Gymnasium Strandboden, Biel/Bienne
5 Universitätsgebäude: Domain House, Hobart
6 Industriegebäude: Eternitfabrik, Payerne
7 Bürogebäude: Roche-Hochhaus, Basel
8 Gemeindehaus: Farelhaus, Biel/Bienne
9 Arkaden: Lauben, Bern
10 Monument: Denkmal für die
ermordeten Juden Europas, Berlin
11 Friedhof: Heilly Station Cemetery,
Méricourt-l’Abbé
Tim Kammasch ist
Professor für Architektur- und
Kulturtheorie im Joint Master of
Architecture der Berner
Fachhochschule. Davor war er
Assistent und Lehrbeauftragter am
Institut für Geschichte und Theorie
der Architektur (gta) an der
ETH-Zürich sowie am Historischen und
am Philosophischen Seminar der
Universität Zürich.
Betrachtungen der Architektur
Versuche in Ekphrasis
Architektur Denken 11
Herausgegeben von Tim Kammasch
transcript Verlag, Bielefeld
1. Auflage, 2020
Broschiert, 326 Seiten, zahlreiche
Abb.
Größe: 22,6 x 13,9 x 2,7 cm
ISBN: 978-3837649949
auch als ebook
ISBN: 978-3-8394-4994-3