Kolumne

André Spicer zur politischen Lage nach der US-Wahl

Als die Ergebnisse der US-Wahlen bekannt geworden sind, versuchten politische Kommentatoren ihr Bestes zu geben, um einen Überblick über die aktuellen Geschehnisse zu bekommen. Doch schon bald wurde klar, dass das Einzige, was aus den Ergebnissen hervorging, Zweideutigkeit war. 

 

 

Washington DC

Ambiguität ist ein strategisches Mittel der Führungskräfte zur Erreichung ihrer Ziele [4]. Als US-Präsident Donald Trump am frühen Morgen erschien, sagte er zu einer kleinen Menge um sich herum: "Wir bereiten uns auf den Wahlsieg vor" und fügte hinzu: "Ganz offen gesagt, haben wir diese Wahl gewonnen." Ein paar Stunden zuvor war Biden auf der Bühne erschienen und hatte seinen Anhängern erklärt: "Um den Glauben zu bewahren, werden wir gewinnen". Beide kannten den Ausgang der Wahl nicht. Aber sie wussten genau, dass sie das meiste politische Kapital aus der Unklarheit der Situation heraus gewinnen. 

Das Fehlen eines klaren, sofortigen Ergebnisses bedeutet, dass Anhänger der Kandidaten vorübergehend nicht in der Lage sind, ihre eigene unflexible Denkweise [5] zu erkennen. Trump-Anhänger legen sich auf einen Sieg in Florida fest und beschweren sich über angebliche Versuche der Demokraten, "die Wahl zu stehlen". Biden-Anhänger konzentrieren sich währenddem auf Siege in den Rostgürtelstaaten 'Rust Belt' und auf einen dortigen Zugewinn. Wie immer wurden unterschiedliche Ansichten durch Spaltung entlang der politischen Linien von den US-Nachrichtenmedien [6] unterstützt und begünstigt. 

Man hätte erwarten können, dass Politiker solche Zweideutigkeiten ausnutzen, während weiterhin die Hoffnung bestehen blieb, dass Finanzmärkte Präzision und Sicherheit bewahren. Auch einige Investoren scheinen diese Zweideutigkeit einfach hinzunehmen. Es gibt nur wenige wilde Ausschläge [7] an den Finanzmärkten, wobei der VIX - der sogenannte Anleger-"Angstindex" der Volatilität - nach den Wahlergebnissen um etwa 20 Prozent fiel und die beiden wichtigsten amerikanischen Aktienmärkte anstiegen. Ein Anlagestratege sagte der Financial Times, er freue sich über eine Rückkehr zum 'Status quo', während ein anderer seine Erleichterung zum Ausdruck brachte, dass es keine größeren Gewaltausbrüche gegeben hat. 

Die gegenwärtige Situation mag Politikern, Kandidaten und Investoren kurzfristig geholfen haben, aber die Unklarheit kann sich mittel- bis langfristig gesehen als gefährlich erweisen. Hier kann Zweideutigkeit eine Art kognitives Polster für Führungskräfte sein. Das bedeutet, dass deren Annahmen niemals aktualisiert werden und diese Führungskräfte sich an Ideen klammern, die zunehmend den Bezug zur Realität verlieren. Eine Folge daraus wäre, dass sie sich zu Handlungen verpflichten, die unklug oder gefährlich sind. Zum Beispiel war Trumps Forderung, alle Stimmauszählungen zu stoppen, ein Vorgehen, das für ihn, da er im Rückstand lag, den Wahlverlust bedeutet hätte. 

Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Unsicherheit

Andauernde Zweideutigkeit der Sachverhalte kann für Anhänger eines Politikers im allgemeinen schädlich sein. Wenn politische Parteien mit Informationen konfrontiert werden, die nicht zu ihren Glaubensvorstellungen passen, wirken sie desorientiert und werden wütend. Beispiel diejenigen, die glauben, dass ihr Kandidat eine Wahl gewonnen hat, um später erkennen zu müssen, dass dies nicht der Fall ist. Sie beschließen, dass ihnen Ansprüche am Wahlsieg "gestohlen" wurden. Da sie der Ansicht sind, dass ihnen das rechtmäßige Resultat illegal vorenthalten wird, verlassen sie sich verstärkt auf außerinstitutionelle oder bisweilen sogar auf illegale Maßnahmen, um ihrem Missfallen Ausdruck zu verleihen und das zu korrigieren, was sie als falsch empfinden.

Dauerhafte Unklarheiten können sich auch negativ auf die Wirtschaft auswirken. Bei den US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000, die zu einem Monat der Unsicherheit über die Auszählungsverhältnisse führten, brachen die [8] Aktienmärkte deutlich ein [8]. Politische Unsicherheit trifft einige der Unternehmen tendenziell stärker als andere: So werden Unternehmen, die eng mit Politikern verbunden sind, wahrscheinlich einen Rückgang [9] ihrer Aktienkurse [9] verzeichnen. Diese wirtschaftlichen Auswirkungen treten verstärkt auf, wenn politische Ambiguität rivalisierende Anhänger dazu veranlasst, ihre Differenzen auf der Straße beizulegen. Eine Studie [10 ] in Ägypten ergab, dass öffentliche Proteste zu Aktienkursverlusten bei Firmen führen, die mit Regierungsmitgliedern in Verbindung stehen. Anhaltende politische Unsicherheit kann das Verhalten von Unternehmen verändern. So ist es beispielsweise weniger wahrscheinlich, dass Unternehmen in politisch unsicheren Zeiten an die Börse [11] gehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Unternehmen in Innovationen investieren, [12] fällt ebenfalls viel geringer aus. 

Die durch politische Ambiguität verursachte Unsicherheit wird zum Hemmschuh für Wirtschaftswachstum [13]. Umgekehrt steigen mit abnehmender politischer Unsicherheit Aktienkurse an, Banken sind eher bereit, Kredite zu vergeben, Unternehmen beschäftigen mehr Mitarbeiter, wodurch sich das Konsumverhalten verändert. 

Ein nicht eindeutiges Wahlergebnis könnte also einen Raum frei von festen Fakten schaffen, in dem wir glauben können, dass die Realität unseren Überzeugungen entspricht. Politische Zweideutigkeit kann gefährliche Folgen haben, unrealistische Überzeugungen fördern, Konflikte schüren und zu wirtschaftlicher Stagnation führen. 

Wenn es um die USA geht, wissen wir, dass ein Kandidat schließlich als Präsident bestätigt wird. Aber es besteht die Gefahr, dass die politischen Unklarheiten, die durch diese Wahl geschaffen wurden - und in einigen Kreisen bewusst gefördert werden [14] - lange Schatten werfen.

Ein Kommentar von André Spicer [1], Professor für Organisationsverhalten, Business School (ehemals Cass) [2], City, University of London

Foto: CC0 by 12019/ pixabay, Meldung: Ida Junker, PPOOL media - communications, Paris

Dieser Artikel wurde ursprünglich in 'The Conversation' veröffentlicht. Lesen Sie den Originalartikel [3].

[1]  https://theconversation.com/profiles/andre-spicer-93496
[2]  https://www.cass.city.ac.uk/
[3]  https://theconversation.com/election-ambiguity-may-be-beneficial-in-the-short-term-but-in-the-long-term-its-corrosive-149479
[4]  https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/03637758409390197
[5]  https://psycnet.apa.org/doiLanding?doi=10.1037%2Fxge0000661
[6]  https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3019414
[7]  https://www.ft.com/content/732afbb8-af6f-4bfa-9cd2-e7dab82873af
[8]  https://link.springer.com/article/10.1007/BF02755983
[9]  https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1386418108000219?casa_token=GppjPXJnF4AAAAAA:1vxgH0Ewx8js-RxuakIy5hdYzqNRAF7dcEzQFbobOnIZ45FelbBBwptAiMgZXNzcFn4DgxLoIDM
[10]  https://academic.oup.com/rfs/article/31/1/1/4060544
[11]  https://www.cambridge.org/core/journals/journal-of-financial-and-quantitative-analysis/article/political-uncertainty-and-ipo-activity-evidence-from-us-gubernatorial-elections/8F2EE62C6038B166F009987127269210
[12]  https://www.cambridge.org/core/journals/journal-of-financial-and-quantitative-analysis/article/what-affects-innovation-more-policy-or-policy-uncertainty/FB21593CFF8551F9204850EFA896658B
[13]  https://www.bankofengland.co.uk/-/media/boe/files/working-paper/2019/macroeconomic-effects-of-political-risk-shocks.pdf
[14]  https://www.sciencemag.org/news/2020/10/us-election-nears-researchers-are-following-trail-fake-news

 

 

Kulturexpress ISSN 1862-1996

 vom 23. November 2020