Über die Fähigkeit gedanklich
sich in andere hineinzuversetzen
Das Gehirn scheint
zwei verschiedene Strukturen zu
besitzen, durch die wir uns in
andere hineinversetzen können. Diese
reifen zu unterschiedlichen
Zeitpunkten heran, sodass erst
Vierjährige die Denkweise eines
anderen nachvollziehen können – und
nicht, wie bislang angenommen,
bereits Einjährige. Zu dem Ergebnis
kommt eine Studie im Fachmagazin
PNAS.
Um zu verstehen, was der andere
denkt und wie er sich verhalten
wird, entwickelt sich im Laufe des
Lebens die Fähigkeit heraus, sich in
die Perspektive des anderen
hineinzuversetzen. Diese Fähigkeit
wird auch als Theory of Mind
bezeichnet. Bislang waren Forscher
uneins darüber, in welchem Alter
Kinder erstmals dazu in der Lage
sind. Wissenschaftler des MPI CBS,
University College London und Social
Neuroscience Lab Berlin haben in
einer aktuellen Studie gezeigt: Erst
Vierjährige scheinen sich
tatsächlich in andere
hineinversetzen zu können. Zwar sind
schon jüngere Kinder fähig dazu, das
Verhalten anderer vorherzusagen. Es
zeigt sich jedoch: Sie bedienen sich
dabei anderer Prozesse und
Hirn-Netzwerke als jene, die uns
später zur Theory of Mind befähigen.
Das Gehirn scheint damit zwei
unterschiedliche Systeme zu
besitzen, die es uns ermöglichen,
die Sichtweise des anderen
einzunehmen.
Untersucht haben die Wissenschaftler
diese Zusammenhänge mithilfe eines
Videoclips. Darin ist eine Katze zu
sehen, die eine Maus dabei
beobachtet, wie sie in einer Kiste
verschwindet. Anschließend kehrt die
Katze der Kiste für einen Moment den
Rücken zu, die Maus huscht unbemerkt
in die benachbarte Box. Als die
Katze sich wieder der Szenerie
widmet, will sie nach ihrer Beute
schauen – und läuft auf die erste
Kiste zu.
Ein Katz-und-Maus-Spiel
Wo wird die Katze nach der Maus
suchen? Erst Vierjährige sind in der
Lage, diese Frage richtig zu
beantworten. Im Alter von vier
Jahren sind die entsprechenden
Hirnregionen dafür ausgereift.
Mithilfe der sogenannten
Eye-Tracking-Methode analysierten
die Wissenschaftler das
Blickverhalten ihrer kleinen
Studienteilnehmer und stellten fest:
Sowohl die Drei- als auch
Vierjährigen konnten richtig
voraussehen, wo die Katze
nachschauen wird. Sie erkannten,
dass die Katze die Maus noch immer
in ihrem ersten Unterschlupf
erwartet und dort suchen wird –
obwohl sie selbst wussten, dass sich
die Maus an anderer Stelle befindet.
Das Interessante dabei: Als die
Wissenschaftler die Dreijährigen
explizit danach fragten, wo die
Katze nach der Maus suchen werde,
antworteten sie falsch. Sie konnten
also zwar mit ihrem Blick richtig
vorhersagen, wo die Katze suchen
wird, dies aber nicht beantworten,
wenn sie explizit gefragt wurden.
Erst Vierjährigen gelang es im
Schnitt, die richtige Antwort zu
geben. Aus Kontrollaufgaben wusste
man, das hat nichts damit zu tun,
dass die Jüngeren die Frage nicht
verstanden hatten.
Der Grund ist ein anderer: Bei
beiden Entscheidungsprozessen, der
non-verbalen Variante über den Blick
und der verbalen über die Antwort,
sind andere Hirnstrukturen
beteiligt. Die Forscher sprechen
hier von Arealen für die implizite
und die explizite Theory of Mind.
Beide Bereiche sind zu
unterschiedlichen Zeitpunkten so
weit entwickelt, dass sie ihre
Funktionen erfüllen können. Im
Supramarginalen Gyrus, der Region
für die non-verbale
Perspektivübernahme, ist die
Großhirnrinde, der Cortex, bereits
früher entsprechend weit ausgereift.
Damit können bereits Dreijährige die
Handlungen anderer vorhersagen.
„Erst im Alter von vier Jahren sind
dann der temporoparietale Übergang
und der Precuneus entsprechend
herangereift, die Regionen, durch
die wir verstehen, was andere denken
– und nicht nur, was sie fühlen und
sehen oder wie sie handeln werden“,
erklärt Erstautorin Charlotte Grosse
Wiesmann vom MPI CBS das zentrale
Ergebnis der aktuellen Studie, die
im renommierten Forschungsmagazin
PNAS erschienen ist.
"In den ersten drei Lebensjahren
scheinen also Kinder noch nicht zu
verstehen, was der andere denkt und
dass das womöglich falsch ist“,
erklärt Mitautor Nikolaus Steinbeis
vom University College London. „Es
scheint einen Mechanismus in der
frühen Kindheit zu geben, eine frühe
Form der Perspektiveinnahme, bei dem
man einfach den Blick des anderen
übernimmt. In dieser
Entwicklungsphase ist man schlicht
darauf angewiesen, das zu
übernehmen, was etwa die Eltern
wissen und sehen.“
Publikation:
Grosse Wiesmann C, Friederici AD,
Singer T, Steinbeis N (2020)
Two systems for thinking about
others' thoughts in the developing
brain
PNAS. doi/10.1073/pnas.1916725117
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Max-Planck-Gesellschaft zur
Förderung der Wissenschaften e.V.,
München