Märchenstunde |
Dornröschen - Ein Märchen der Gebrüder Grimm
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Illustration
nach Otto Ubbelohde
(1867-1922)
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Vor Zeiten war ein
König und eine Königin, die sprachen
jeden Tag: "Ach, wenn wir doch ein
Kind hätten!" und kriegten immer
keins. Da trug sich zu, als die
Königin einmal im Bade sass, dass
ein Frosch aus dem Wasser ans Land
kroch und zu ihr sprach: "Dein
Wunsch wird erfüllt werden, ehe ein
Jahr vergeht, wirst du eine Tochter
zur Welt bringen."
Was der Frosch gesagt hatte, das
geschah, und die Königin gebar ein
Mädchen, das war so schön, dass der
König vor Freude sich nicht zu
lassen wusste und ein grosses Fest
anstellte. Er ladete nicht bloss
seine Verwandte, Freunde und
Bekannte, sondern auch die weisen
Frauen dazu ein, damit sie dem Kind
hold und gewogen wären. Es waren
ihrer dreizehn in seinem Reiche,
weil er aber nur zwölf goldene
Teller hatte, von welchen sie essen
sollten, so musste eine von ihnen
daheim bleiben.
Das Fest ward mit aller Pracht
gefeiert, und als es zu Ende war,
beschenkten die weisen Frauen das
Kind mit ihren Wundergaben: die eine
mit Tugend, die andere mit
Schönheit, die dritte mit Reichtum,
und so mit allem, was auf der Welt
zu wünschen ist. Als elfe ihre
Sprüche eben getan hatten, trat
plötzlich die dreizehnte herein. Sie
wollte sich dafür rächen, dass sie
nicht eingeladen war, und ohne
jemand zu grüssen oder nur
anzusehen, rief sie mit lauter
Stimme: "Die Königstochter soll sich
in ihrem fünfzehnten Jahr an einer
Spindel stechen und tot hinfallen."
Und ohne ein Wort weiter zu
sprechen, kehrte sie sich um und
verliess den Saal. Alle waren
erschrocken, da trat die zwölfte
hervor, die ihren Wunsch noch übrig
hatte, und weil sie den bösen Spruch
nicht aufheben, sondern nur ihn
mildern konnte, so sagte sie: "Es
soll aber kein Tod sein, sondern ein
hundertjähriger tiefer Schlaf, in
welchen die Königstochter fällt."
Der König, der sein liebes Kind vor
dem Unglück gern bewahren wollte,
liess den Befehl ausgehen, dass alle
Spindeln im ganzen Königreiche
verbrannt werden. An dem Mädchen
aber wurden die Gaben der weisen
Frauen sämtlich erfüllt, denn es war
so schön, sittsam, freundlich und
verständig, dass es jedermann, er es
ansah, lieb haben musste. Es
geschah, dass an dem Tage, wo es
gerade fünfzehn Jahr alt ward, der
König und die Königin nicht zu Haus
waren, und das Mädchen ganz allein
im Schloss zurückblieb. Da ging es
allerorten herum, besah Stuben und
Kammern, wie es Lust hatte, und kam
endlich auch an einen alten Turm. Es
stieg die enge Wendeltreppe hinauf,
und gelangte zu einer kleinen Türe.
In dem Schloss steckte ein
verrosteter Schlüssel, und als es
umdrehte, sprang die Türe auf, und
sass da in einem kleinen Stübchen
eine alte Frau mit einer Spindel und
spann emsig ihren Flachs.
"Guten Tag, du altes Mütterchen,"
sprach die Königstochter, "was
machst du da?" - "Ich spinne," sagte
die Alte und nickte mit dem Kopf
."Was ist das für ein Ding, das so
lustig herumspringt?" sprach das
Mädchen, nahm die Spindel und wollte
auch spinnen. Kaum hatte sie aber
die Spindel angerührt, so ging der
Zauberspruch in Erfüllung, und sie
stach sich damit in den Finger. In
dem Augenblick aber, wo sie den
Stich empfand, fiel sie auf das Bett
nieder das da stand, und lag in
einem tiefen Schlaf.
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Illustration nach Otto
Ubbelohde |
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Und dieser Schlaf verbreite sich
über das ganze Schloss: der König
und die Königin, die eben
heimgekommen waren und in den Saal
getreten waren, fingen an
einzuschlafen und der ganze Hofstaat
mit ihnen. Da schliefen auch die
Pferde im Stall, die Hunde im Hofe,
die Tauben auf dem Dache, die
Fliegen an der Wand, ja, das Feuer,
das auf dem Herde flackerte, ward
still und schlief ein, und der
Braten hörte auf zu brutzeln, und
der Koch, der den Küchenjungen, weil
er etwas versehen hatte, in den
Haaren ziehen wollte, liess ihn los
und schlief. Und der Wind legt sich,
und auf den Bäumen vor dem Schloss
regte sich kein Blättchen mehr.
Rings um das Schloss aber begann
eine Dornenhecke zu wachsen, die
jedes Jahr höher ward, und endlich
das ganze Schloss umzog und darüber
hinauswuchs, dass gar nichts davon
zu sehen war, selbst nicht die Fahne
auf den Dach.
Es ging aber die Sage in dem Land
von dem schönen schlafenden
Dornröschen, denn so ward die
Königstochter genannt, also dass von
Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und
durch die Hecke in das Schloss
dringen wollten. Es war ihnen aber
nicht möglich, denn die Dornen, als
hätten sie Hände, hielten fest
zusammen, und die Jünglinge blieben
darin hängen, konnten sich nicht
wieder losmachen und starben eines
jämmerlichen Todes.
Nach langen Jahren kam wieder einmal
ein Königssohn in das Land, und
hörte, wie ein alter Mann von der
Dornenhecke erzählte, es sollte ein
Schloss dahinter stehen, in welchem
eine wunderschöne Königstochter,
Dornröschen genannt, schon seit
hundert Jahren schliefe, und mit ihr
der König und die Königin und der
ganze Hofstaat. Er wusste auch von
seinem Grossvater, dass schon viele
Königssöhne gekommen wären und
versucht hätten, durch die
Dornenhecke zu dringen, aber sie
wären darin hängengeblieben und
eines traurigen Todes gestorben. Da
sprach der Jüngling: "Ich fürchte
mich nicht, ich will hinaus und das
schöne Dornröschen sehen." Der gute
Alte mochte ihm abraten, wie er
wollte, er hörte nicht auf seine
Worte. Nun waren aber gerade die
hundert Jahre verflossen, und der
Tag war gekommen, wo Dornröschen
wieder erwachen sollte. Als der
Königssohn sich der Dornenhecke
näherte, waren es lauter grosse
schöne Blumen, die taten sich von
selbst auseinander und liessen ihn
unbeschädigt hindurch, und hinter
ihm taten sie sich wieder als Hecke
zusammen. Im Schlosshof sah er die
Pferde und scheckigen Jagdhunde
liegen und schlafen, auf dem Dach
sassen die Tauben und hatten das
Köpfchen unter den Flügel gesteckt.
Und als er ins Haus kam, schliefen
die Fliegen an der Wand, der Koch in
der Küche hielt noch die Hand, als
wollte er den Jungen anpacken, und
die Magd sass vor dem schwarzen
Huhn, das sollte gerupft werden.
Da ging er weiter und sah im Saale
den ganzen Hofstaat liegen und
schlafen, und oben bei dem Throne
lag der König und die Königin. Da
ging er noch weiter, und alles war
so still, dass einer seinen Atem
hören konnte, und endlich kam er zu
dem Turm und öffnete die Türe zu der
kleinen Stube, in welcher
Dornröschen schlief. Da lag es und
war so schön, dass er die Augen
nicht abwenden konnte, und er bückte
sich und gab ihm einen Kuss.
Wie er es mit dem Kuss berührt
hatte, schlug Dornröschen die Augen
auf, erwachte, und blickte ihn ganz
freundlich an. Da gingen sie
zusammen herab, und der König
erwachte und die Königin und der
ganze Hofstaat, und sahen einander
mit grossen Augen an. Und die Pferde
im Hof standen auf und rüttelten
sich; die Jagdhunde sprangen und
wedelten; die Tauben auf dem Dache
zogen das Köpfchen unterm Flügel
hervor, sahen umher und flogen ins
Feld; die Fliegen an den Wänden
krochen weiter; das Feuer in der
Küche erhob sich, flackerte und
kochte das Essen; der Braten fing
wieder an zu brutzeln; und der Koch
gab dem Jungen eine Ohrfeige, dass
er schrie; und die Magd rupfte das
Huhn fertig.
Und da wurde die Hochzeit des
Königssohns mit dem Dornröschen in
aller Pracht gefeiert, und sie
lebten vergnügt bis an ihr Ende.
Quelle: Gebrüder
Grimm, Kinder- und Hausmärchen,
große Ausgabe, Band 1, 1850, Jacob
Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm
(1786-1859)