Um die Ausbreitung
des Coronavirus einzudämmen, haben
die EU-Regierungen den Grenzverkehr
in den vergangenen Wochen in
unterschiedlichem Umfang
vorübergehend wieder eingeschränkt.
Die Maßnahmen reichen von
Grenzkontrollen bis hin zu
Grenzschließungen. Dies hatte
zuweilen ernsthafte Auswirkungen auf
den Frachtverkehr; die
Grenzkontrollen führten zu
kilometerlangen Staus, wie etwa
zwischen Polen und Deutschland.
Weltweit wurden Maßnahmen zur
Eindämmung der exponentiellen
Verbreitung von COVID-19 ergriffen,
die unter normalen Umständen als
extrem eingestuft werden würden.
Nach jahrzehntelang wachsender
internationaler Vernetzung wurde die
Bewegungsfreiheit jetzt abrupt
eingeschränkt. In Europa griffen die
EU-Mitgliedstaaten auf Vorschlag der
EU-Kommission zu einer gänzlich
neuen Maßnahme und schlossen die
Außengrenzen der EU für
Nicht-EU-Bürger.
Verkehrsstaus an europäischen
Grenzen
Quelle:
Sixfold,
https://covid-19.sixfold.com
Die Kommission hatte gehofft,
dass die EU-Politiker nach dieser
abgestimmten Schließung der
Außengrenzen die Grenzen innerhalb
der EU wieder öffnen würden, sodass
die Schäden für den Binnenmarkt
begrenzt werden könnten. In den
vergangenen Wochen haben praktisch
alle EU-Regierungen den Grenzverkehr
in unterschiedlichem Umfang
vorübergehend wieder eingeschränkt.
Die Maßnahmen reichen von
Grenzkontrollen bis hin zu
Grenzschließungen.[1] Dies hatte
zuweilen ernsthafte Auswirkungen auf
den Frachtverkehr; die
Grenzkontrollen führten zu
kilometerlangen Staus, wie etwa
zwischen Polen und Deutschland.
Einige EU-Bürger konnten nicht mehr
direkt nach Hause zurückreisen,
nachdem EU-Mitglieder ihre
Binnengrenzen für Ausländer
geschlossen hatten.
Um die ununterbrochene Versorgung
mit Grundbedarfsgütern in der EU
sicherzustellen, forderte die
Kommission die Mitgliedstaaten auf,
an den Grenzübergängen sogenannte
„Green Lanes“ für Lkw einzurichten
und die Kontrollen der Fahrer zu
minimieren.
Aussetzung des Schengen-Abkommens
ist schon nahezu zum Normalfall
geworden
Die Infektionszahlen und auch die
Zahl der COVID-19-bedingten
Todesfälle steigen in der EU rasch
an. Daher sind
Ausgangsbeschränkungen und
vorübergehende Grenzschließungen
sicherlich erforderlich. Der
Schengener Grenzkodex gestattet es
den Mitgliedstaaten ausdrücklich,
vorübergehend wieder Grenzkontrollen
einzuführen, wenn eine
„schwerwiegende Bedrohung der
öffentlichen Ordnung oder inneren
Sicherheit“ besteht. [2]Bereits
während der Flüchtlingskrise der
Jahre 2015/16 wurden wieder
Grenzkontrollen eingeführt, da die
EU mit dem dramatischen Anstieg der
Zahl der Flüchtlinge aus dem
Mittleren und Nahen Osten, die
Schutz in der EU suchten,
überfordert war. In einigen Fällen
wurden die Grenzkontrollen aufgrund
von Migrations- und
Sicherheitserwägungen bis heute
beibehalten, obwohl die Zahl der
Asylanträge deutlich zurückgegangen
ist.Nach Auffassung mancher
Beobachter widerspricht dies der
Vorstellung, dass Grenzkontrollen
innerhalb Europas allenfalls
vorübergehend wieder eingeführt
werden dürfen, und könne faktisch
als Aussetzung der
Schengen-Konvention aus dem Jahr
1995 angesehen werden, die eine
Abschaffung der Grenzkontrollen
zwischen den 26 EU-Mitgliedstaaten
vorsieht.[3] Das Schengener Abkommen
soll garantieren, dass Reisen der
Bürger und Gütertransporte innerhalb
Europas ohne Passkontrolle möglich
sind.
Warenströme essentiell für Europas
Volkswirtschaften
Anmerkung: *: BE
und NL große internationale
Frachthäfen; **: starke Verflechtung
mit der EU-Automobilindustrie
EU-Mitgliedstaaten müssen sich
absprechen und das Verfahren an der
Grenze standardisieren, um
Unterbrechungen des Güterverkehrs
möglichst gering zu halten
Derzeit kann niemand sagen, wie
lange die aktuellen Maßnahmen zur
Eindämmung von COVID-19 noch
beibehalten werden müssen. Die Krise
wird ernsthafte Auswirkungen auf die
Weltwirtschaft und auf die
Volkswirtschaften der EU haben. Wie
stark diese Auswirkungen ausfallen,
hängt vor allem davon ab, wie lange
die Ausgangssperren anhalten und wie
umfangreich die ergriffenen
Gegenmaßnahmen sind.
Zwischen den Ländern der EU bestehen
enge wirtschaftliche Beziehungen,
sowohl entlang der
Wertschöpfungsketten als auch im
Handel. Daher spielt der Umfang der
Grenzkontrollen bzw. -schließungen
eine wichtige Rolle, wenn es um die
wirtschaftlichen Folgen der Krise
geht. Der Warenverkehr (Exporte und
Importe) zwischen den
Mitgliedstaaten macht knapp 45
Prozent des EU-BIP aus. Dabei sind
einige EU-Länder aufgrund ihrer
intensiven Einbindung in den Handel
bzw. die Wertschöpfungsketten
besonders anfällig. Der Großteil der
Binnenlieferungen innerhalb der EU
(75 Prozent) erfolgt über die
Straße. Staus an wichtigen
Grenzübergängen können daher EU-weit
beträchtliche Verzögerungen
auslösen, da die
EU-Volkswirtschaften zunehmend enger
miteinander vernetzt und voneinander
abhängig sind. Wenn der Verkehr also
an den Grenzübergängen nicht mehr
fließt, hat dies schwerwiegende
Konsequenzen für den Güterverkehr
innerhalb der EU. Davon können auch
Grundbedarfsgüter und
Gesundheitsgüter betroffen sein.
75
Prozent des Binnengüterverkehrs der
EU geht über die Straße
Quelle: Eurostat
Kommission setzt sich für
Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU
ein
Neben dem innereuropäischen
Handel hat sich auch die Mobilität
der Arbeitskräfte innerhalb des
Binnenmarkts in den vergangenen
Jahren deutlich erhöht. Im EU- bzw.
EFTA-Raum arbeiteten im Jahr 2018
1,9 Millionen Menschen als
Grenzgänger. Insgesamt sind
lediglich 0,8 Prozent der
Arbeitnehmer in der EU/EFTA als
Grenzgänger einzustufen.[4] Dabei
bestehen jedoch beträchtliche
Unterschiede zwischen den
Mitgliedstaaten; die meisten
Grenzgänger kommen aus Frankreich,
Deutschland und Polen, und ihre
Arbeitsplätze befinden sich zumeist
in Deutschland, der Schweiz und
Luxemburg. Zahlreiche
EU-Mitgliedstaaten, u.a. Italien,
Spanien oder Deutschland,
beschäftigen zudem viele
Saisonarbeiter aus Nachbarländern in
der Landwirtschaft. Das Frühjahr hat
begonnen, und wenn es aufgrund der
Grenzschließungen an Arbeitskräften
mangelt, könnte sich dies auf die
Versorgung mit landwirtschaftlichen
Gütern auswirken.[5]
Die Regierungen befassen sich
inzwischen mit diesem Thema, und die
EU-Kommission hat die
Mitgliedstaaten aufgerufen, sich bei
ihren Maßnahmen zur Behebung des
Arbeitskräftemangels aufgrund von
Einschränkungen der
Bewegungsfreiheit zu koordinieren
und die Lebensmittelversorgung in
Europa sicherzustellen. In der
vergangenen Woche hat die Kommission
„Leitlinien zur Ausübung der
Freizügigkeit der Arbeitskräfte
während des COVID-19-Ausbruchs“
veröffentlicht.[6] Die Kommission
hat die Mitgliedstaaten
aufgefordert, die Freizügigkeit von
mit systemrelevanten Funktionen
betrauten Arbeitskräften, z.B.
Arbeitskräften im Gesundheitswesen,
im Betreuungswesen (einschließlich
Kinder- und Altenbetreuung),
wissenschaftlichen Experten im
Gesundheitssektor, Arbeitskräften,
die für die Installation wichtiger
medizinischer Geräte erforderlich
sind, Feuerwehrleuten und
Polizeibeamten, Arbeitskräften im
Verkehrssektor und Arbeitskräften im
Lebensmittelsektor, nicht
einzuschränken. Dies soll auch für
Saisonarbeiter für wichtige Ernte-,
Pflanz- und Pflegearbeiten gelten.
Die Kommission hat die
Mitgliedstaaten aufgerufen,
Grenzgänger nicht gegenüber
nationalen Arbeitnehmer zu
diskriminieren.
Risiko einer dauerhaften
Beschädigung der europäischen
Integration und des Zusammenhalts in
der EU
Wenn wir zurück zu einem Europa der
Grenzen kommen, hat dies nicht nur
direkte Folgen für die Lieferketten
und die Gesamtwirtschaft, sondern
könnte sich auch dauerhaft auf die
Europäische Union als Ganzes
auswirken. Die COVID-19-Krise trifft
Europa zu einem Zeitpunkt, in dem
innerhalb der Union Fliehkräfte zu
erkennen sind – trotz aller Versuche
der Mitglieder, sich einig den
zunehmenden globalen
Herausforderungen zu stellen. Durch
den Brexit hat die EU eines ihrer
größten Mitglieder und einen der
wichtigsten Verfechter der
Interessen der nördlichen Staaten
verloren, was ihr inneres
politisches Gleichgewicht beschädigt
hat.
In der vergangenen Woche ist es
den führenden EU-Politikern nicht
gelungen, sich auf ein gemeinsames
Vorgehen auf EU-Ebene zu einigen.
Während einige EU-Länder noch mit
den Folgen der Finanzkrise zu
kämpfen haben, versuchen die
europäischen Staatsoberhäupter einen
Konsens über gänzlich neue Maßnahmen
herzustellen, um mit dem durch die
Coronakrise ausgelösten
wirtschaftlichen Schock umzugehen.
Dazu gehören heftig umstrittene
Vorschläge wie die gemeinsame
Emission von „Corona-Bonds“, die von
einigen „sparsamen“ Mitgliedstaaten
wie den Niederlanden, den
skandinavischen Ländern und
Deutschland strikt abgelehnt werden.
Die EU hat letzte Woche einen
Vorschlag für eine europäische
Arbeitslosenversicherung mit einem
Volumen von bis zu EUR 100 Mrd.
vorgelegt,[7] über den bei der
Sitzung der Eurogruppe (Dienstag, 7.
April) diskutiert wird. Der
Vorschlag soll Kurzarbeitsregelungen
wie das deutsche Model oder das
italienische „Cassa Integrazione“
sowie ähnliche Maßnahmen
unterstützen.[8]
Bereits in der Flüchtlingskrise
konnten sich die Mitgliedstaaten
nicht auf ein gemeinsames Vorgehen
einigen; damals wurde die
Dublin-Verordnung, in der die
Zuständigkeit für Asylanträge
geregelt ist, faktisch aufgegeben.
Ungarn und Polen befinden sich in
einem offenen Konflikt mit Brüssel
über die Frage, inwieweit sie die
Rechtsstaatlichkeit respektieren.
Ungarn hat derweil zur Bekämpfung
von COVID-19 für unbegrenzte Zeit
weitreichende Notstandsvorschriften
eingeführt, die nach Auffassung
zahlreicher Beobachter einer
Abschaffung der Demokratie
gleichkommen.[9] Die Kommission
warnte auf ihrer Internetseite (ohne
dabei explizit bestimmte
Mitgliedstaaten zu nennen), dass
grundlegende Prinzipien und Werte
der EU auch im Kampf gegen Corona
gewahrt bleiben müssen.[10] Der
heftig umstrittene nächste
EU-Haushalt (2021 - 2027) ist immer
noch nicht verabschiedet (Aktueller
Kommentar, 26. Februar 2020); die
Kommission hat ihren
Haushaltsvorschlag noch um ein
Konjunkturpaket erweitert, das die
Folgen der Pandemie abmildern
soll.[11]
Bisher haben die politischen
Verantwortungsträger in der EU vor
allem auf nationaler Ebene auf
COVID-19 reagiert; mit der
Aussetzung der fiskalischen Vorgaben
des Stabilitäts- und Wachstumspakts
und der Wiedereinführung von
Grenzkontrollen (so notwendig sie
derzeit auch sind) hat die EU
(vorübergehend) nun selbst einige
ihrer wichtigsten Grundpfeiler
ausgesetzt. Dies bringt das Risiko
mit sich, dass diese Maßnahmen –
sofern sie auf längere Sicht
erforderlich sind – die Diskrepanzen
zwischen den Mitgliedstaaten
verstärken und die Fliehkräfte
innerhalb der EU sich gerade zu
einem Zeitpunkt verstärken, zu dem
Einigkeit und Zusammenarbeit
wichtiger denn je sind.
[1] https://ec.europa.eu/transport/coronavirus-response_en
[2] Europäische Kommission (2020).
[3] Irland und Großbritannien haben
sich dem Schengener Abkommen nicht
angeschlossen; Island, Norwegen und
die Schweiz sind assoziierte
Mitglieder des Schengen-Raums,
gehören aber nicht der EU an.
[4] EU-Kommission (2020). 2019
Annual report on intra-EU labour
mobility.
[5] Euractiv, March 25.
[6] Europäische Kommission, 30.
März.
[7] Europäische Kommission, 2.
April.
[8] Politico, 31.03.2020.
[9] Guardian, 1. April 2020.
[10] Europäische Kommission, 31.
März.
[11] Europäische Kommission, 30.
März.
Meldung: Deutsche
Bank, Frankfurt am Main