Kulturelle Prozesse laufen immer schneller ab und zeigen zudem
eine wachsende Tendenz zur Selbstorganisation. Damit ist Erfolg
heutzutage nach einer universellen Gesetzmäßigkeit verteilt.
Dies haben die beiden Physiker Professor Claudius Gros und Lukas
Schneider von der Goethe-Universität herausgefunden. Ihr
Untersuchungsgegenstand: 50 Jahre Musikcharts.
Seit den 1960er
Jahren werden Musikcharts nach dem gleichen Kriterium erstellt,
nämlich anhand des kommerziellen Erfolges. Somit eignen sich
Charts auf besondere Weise dazu, die langfristige Entwicklung
kultureller Zeitskalen zu untersuchen – benötigt man hierfür
doch Daten, die über Jahrzehnte hinweg vergleichbar sind. Auch
über den kulturellen Bereich hinaus ist diese Herangehensweise
relevant; insbesondere in Bezug auf die politische
Meinungsbildung, die die dynamische Stabilität liberaler
Demokratien tangiert.
In einer neuen
Arbeit, die jetzt bei Royal Society Open Science erschienen ist,
legen Lukas Schneider und Prof. Claudius Gros vom Institut für
Theoretische Physik der Goethe-Universität dar, dass sich die
statistischen Eigenschaften, die Zusammensetzung und die Dynamik
der amerikanischen, britischen, niederländischen und deutschen
Pop Album-Charts seit Anfang der 1990er Jahre zum Teil deutlich
verändert haben. Einerseits hat sich die Vielfalt der Charts
verdoppelt oder sogar verdreifacht: Es gibt jetzt deutlich mehr
Alben, die es in einem Jahr unter die Top 100 bzw. die Top 40
schaffen. Andererseits ist es mittlerweile so, dass ein Album
entweder gleich als Nummer Eins startet – oder nie die Nummer
Eins wird. In den 1960er bis -80er Jahren brauchten erfolgreiche
Alben hingegen in der Regel vier bis sechs Wochen, um sich von
ihrem Startplatz auf den ersten Rang hochzuarbeiten.
Die Anzahl der
Wochen, während derer ein Album gelistet ist, dessen
„Lebensdauer“, hat sich Schneider und Gros zufolge qualitativ
verändert. Wurde die Lebensdauer bis zu den 1990er Jahren noch
durch eine Gauß-Verteilung mit einem logarithmischen Argument
beschrieben (log-normal), ist sie heutzutage durch ein
Potenzgesetz charakterisiert. Die Verteilung der Lebensdauer ist
somit universell, d. h. unabhängig von den Spezifika des
Vorganges, was typisch für den Endzustand eines
selbst-organisierenden Prozesses ist. Um diese Entwicklung zu
erklären, schlagen Schneider und Gros einen
informationstheoretischen Ansatz für menschliche Aktivitäten
vor. Demnach sind Menschen kontinuierlich darum bemüht, den
Informationsgehalt ihrer Erfahrungen und Wahrnehmung zu
optimieren. Mathematisch wird Information durch die
Schannon-Entropie erfasst, wobei zu berücksichtigen ist, dass
Zeiten und andere Größen im Gehirn nach dem Weber-Fechner Gesetz
nicht 1:1, sondern stark komprimiert dargestellt und gespeichert
werden (auf einer logarithmischen Skala).
Insgesamt ergeben die Untersuchungen von Schneider und Gros,
dass die Chartdynamik und damit auch die zugrundeliegenden
sozio-kulturellen Prozesse heute deutlich schneller als vor
einigen Jahrzehnten ablaufen. Eine ähnliche Beschleunigung
könnte auch, wie die Autoren darlegen, für die Prozesse gegeben
sein, die der politischen Meinungsbildung zugrunde liegen. Wie
in einer früheren Arbeit von Gros gezeigt, wäre damit die
dynamische Stabilität moderner Demokratien gefährdet, da die
Zeitskalen der Wähler und die der politischen Institutionen
auseinanderdrifteten, d. h. die Zeitskala der Meinungsbildung
und die der zeitverzögerten Entscheidungsprozesse (C. Gros,
Entrenched time delays versus accelerating opinion dynamics: Are
advanced democracies inherently unstable?
European Physical
Journal B 90, 223 (2017).
https://epjb.epj.org/articles/epjb/abs/2017/11/b170341/b170341.html