Neues Highlight im Mathematikum Gießen präsentiert den Nachbau der ENIGMA Verschlüsslungsmaschine

Meldung: Mathematikum Gießen

Nach seiner alljährlichen Woche der Renovierung ist das Mathematikum Gießen feierlich wiedereröffnet worden. Fünf Tage lang waren Schreiner, Elektriker, Maler und viele weitere Beteiligte beschäftigt, damit sich Tor und Tür für alle Besucher wieder öffneten. Seit 16. Januar dürfen diese auch die ENIGMA bestaunen. Dem vorausgegangen war am 14. Januar eine Jahrespressekonferenz. Bei dieser Gelegenheit wurde der Nachbau der ersten Öffentlichkeit und den Medien vorgestellt.

Die Renovierungsphase im Mathematikum wurde in diesem Jahr auch dazu genutzt, um den Ausstellungsbereich in dem die ENIGMA aufgestellt ist, grundlegend neu zu gestalten. Im „Raum mit dem Faxenspiegel“ wird sich alles um das Thema „Verschlüsselung“ drehen. Neben einigen neu entwickelten Experimenten werden die Besucher ein funktionstüchtiges Replikat der ENIGMA, der berühmtesten Verschlüsselungsmaschine der Welt, zu sehen bekommen.

„Eine ENIGMA für das Mathematikum erwerben zu können, war ein Glücksfall und ich bin stolz darauf, dass wir unseren Besuchern ein so wichtiges Objekt der Geschichte der Kryptographie präsentieren können“, sagt Prof. Albrecht Beutelspacher, Leiter des Mathematikums.

Zur Einweihung des neugestalteten Raumes war Horst Görtz anwesend, dessen Stiftung den Erwerb der ENIGMA erst möglich gemacht hat. Auch der Hersteller des ENIGMA-Replikats, Klaus Kopacz, war zur Eröffnung gekommen und beantwortete im Gespräch mit Albrecht Beutelspacher spannende Fragen und gab Hintergrundinformationen zu seiner Arbeit mit der Verschlüsselungsmaschine.


Nach dem Ersten Weltkrieg suchten die deutschen Militärs nach einem Ersatz für die inzwischen veralteten, umständlichen und unsicheren manuellen Verschlüsselungsverfahren, die bis dahin verwendet wurden. Hierfür kamen maschinelle Verfahren in Betracht, weil sie eine einfachere Handhabung und eine verbesserte kryptographische Sicherheit versprachen. Basierend auf zu Beginn des 20. Jahrhunderts neu aufgekommenen Techniken, wie der elektrischen Schreibmaschine und dem Fernschreiber, kamen unabhängig voneinander und fast gleichzeitig mehrere Erfinder auf die Idee des Rotor-Prinzips zur Verschlüsselung von Texten.

Man schätzt, dass während des Zweiten Weltkriegs etwas mehr als 40.000 Maschinen hergestellt wurden. Im Laufe der Zeit – bis zum Kriegsende 1945 und noch darüber hinaus – kamen viele verschiedene Modelle und Varianten der Enigma zum Einsatz. Die meistgebrauchte war die Enigma I (sprich: „Enigma Eins“), die ab 1930 von der Reichswehr und später von der Wehrmacht eingesetzt wurde und das während des Zweiten Weltkriegs wohl am häufigsten benutzte Verschlüsselungsverfahren verkörperte.

Bei manchen Versionen braucht der Empfänger der Nachricht die gleiche Schablone, um den Geheimtext entschlüsseln zu können. Doch wie konstruiert man eine Fleißner-Schablone? Genauer gefragt: Wo müssen beziehungsweise dürfen die Löcher angebracht werden? Dazu hilft folgende Schemazeichnung:

Die 36 Felder sind mit den neun Zahlen 1, 2, 3, ..., 9 bezeichnet, von denen jede viermal vorkommt. Die Bezeichnung ist so gewählt, dass durch Drehungen um 90, 180 und 270 Grad jeweils Felder mit den gleichen Zahlen aufeinanderfallen. Um eine Fleißner-Schablone zu erhalten, entfernt man jeweils ein Feld einer Zahlensorte, also ein Feld, das mit 1 bezeichnet ist, eines, das mit 2 bezeichnet ist, und so weiter. Daraus ergibt sich auch die Anzahl aller möglichen Fleißner-Schablonen, das heißt die Anzahl der Schlüssel dieser Verschlüsselungsmethode. Da wir aus neun Mengen mit je vier Elementen jeweils eines auswählen, ist die Anzahl der Möglichkeiten 4•4 • ... •4=49 =262144.

Um keine andere mathematische Maschine ranken sich so viele Mythen wie um die ENIGMA. Kein Verschlüsselungsgerät stand so sehr im Zentrum internationalen Interesses. Keine Maschine wurde so berühmt. Die ENIGMA ist eine Erfindung des deutschen Ingenieurs Arthur Scherbius (1878-1929), der sie 1918 zum Patent angemeldet hat. Ihre große Zeit hatte die ENIGMA im Zweiten Weltkrieg, als sie das Chiffriergerät der deutschen Wehrmacht war. Es ist unbekannt, wie viele ENIGMAs hergestellt wurden. Man schätzt, mindestens 100 000.

«Der Geheimcode» im Mathematikum ist eine Variante der Fleißner-Schablone. Das Experiment besteht aus einer kreisförmigen Scheibe, die nicht nur vier Ausrichtungen (0 Grad, 90 Grad, 180 Grad, 270 Grad) erlaubt, sondern sehr viel mehr. Als Codeknacker muss man die Scheibe langsam, Stückchen für Stückchen, drehen und genau hinsehen, um die Position zu erkennen, bei der die Folge der Buchstaben in den Löchern einen sinnvollen Text ergibt. Und selbst wenn man eine richtige Position gefunden hat, ist das zeilenweise Lesen immer noch eine Herausforderung.
 

Es gibt vier Positionen, in denen sinnvolle Texte erscheinen:


Die ENIGMA ist ein elektromechanisches Verschlüsselungsgerät. Das heißt zum einen, dass die Maschine mit Strom arbeitet, zum anderen, dass sie aus mechanischen, beweglichenTeilen besteht. Die elektrische Komponen­ te kann man äußerlich schon daran erkennen, dass die verschlüsselten Buchstaben durch ein elektrisches Lämpchen angezeigt werden. Die Me­ chanik sieht man daran, dass sich die entscheidenden Teile der ENIGMA, die Rotoren, nach jedem Verschlüsselungsschritt weiterdrehen.

Im Grunde ist die ENIGMA einfach zu bedienen: Um einen Buchstaben zu verschlüsseln, drückt man die entsprechende Taste der Tastatur - und un­ mittelbar darauf leuchtet auf dem Feld darüber der verschlüsselte Buchstabe auf.

Was passiert dabei im Innern dieser Holzkiste? Ganz vereinfacht gesagt, ist die ENIGMA aus Cäsar-Scheiben aufgebaut. Diese werden in der ENIGMA-Welt «Rotoren» genannt. Die Funktionalität der ENIGMA besteht aus drei Ideen.

Erste Idee: Die Rotoren besitzen auf beiden Seiten 26 Kontakte, die wir uns zyklisch mit den Buchstaben A, B, C, ..., Z gekennzeichnet denken können. Außerdem haben die Rotoren eine gewisse Dicke. Diese ermöglicht es, je­ den Buchstaben der Vorderseite mit einem Buchstaben der Rückseite durch eine Leitung zu verbinden. Zum Beispiel waren die Buchstaben bei einem der Rotoren durch folgende Permutation verdrahtet:

Vorderseite: A B C D E F G H I J K L M N O P O R S T U V W X Y Z

Rückseite: L P G S Z M H A E 0 0 K V X R F Y B U T N I C J D W

Verschlüsselt man zum Beispiel den Buchstaben B, dann wird bei diesem Rotor auf der Vorderseite Strom an den Buchstaben B angelegt. Auf der Rückseite kommt der Strom dann bei dem Buchstaben P an.

Zweite Idee: Eine ENIGMA enthält drei Rotoren, spätere Versionen auch vier, die abwechselnd mit Vorder- und Rückseite aneinandergefügt sind . Der Stromstoß, der nach dem Durchgang durch den ersten Rotor bei P landet, wird nun auf den direkt anliegenden Buchstaben der Vorderseite des zweiten Rotors weitergeleitet. Danach wird er mittels eines Drahts auf einen Buchstaben der Rückseite des zweiten Rotors weitergeleitet. So ge­ langt der Strom zum letzten Rotor und wird durch diesen hindurchgeleitet Schon bis hierher ist eine ganz schöne Durchmischung eingetreten.

Dritte Idee: Eine Spezialität der ENIGMA ist die «Umkehrwalze». Diese verbindet die Buchstaben des Alphabets so, dass jeweils zwei miteinander vertauscht werden. Dies könnte zum Beispiel so geschehen:


A<=>Y; B<=>R; C<=>U; D<=>H; E<=>Q; F<=>S;
G<=>L; I<=>P; J<=>X; K<=>N; M<=>O; T<=>Z; V<=>W;


Das heißt, der Strom, der bei einem Buchstaben D auf der Rückseite des letzten Rotors ankommt, wird zum Buchstaben H geleitet. Dann fließt der Strom durch die drei Rotoren in umgekehrter Reihenfolge zurück. Schließlich kommt der Stromstoß bei einem Buchstaben auf der Vorderseite des ersten Rotors an- und das ist der chiffrierte Buchstabe.

Eine Beobachtung können wir hier schon machen: Bei gleicher Einstellung der Rotoren sind Verschlüsselung und Entschlüsselung das Gleiche. Das heißt: Wenn A in 0 verschlüsselt wird, dann wird auch 0 in A entschlüsselt. Außerdem wird kein Buchstabe zu sich selbst verschlüsselt. Beide Eigenschaften waren für die Kryptaanalyse der ENIGMA entscheidend.

Ist ein Buchstabe auf diese Weise verschlüsselt, dreht sich der erste Rotor um eine Stelle weiter. Nach 26 Buchstaben, wenn also der erste Rotor wie­ der in die Ausgangslage kommt, dreht sich auch der zweite Rotor um eine

Stelle weiter. Wenn sich der erste Rotor 26 • 26malgedreht hat, dreht sich auch der dritte Rotor um eine Stelle weiter. Das bedeutet: Nach 26 • 26 • 26 = 17 576 verschlüsselten Buchstaben fängt bei einer 3-Rotor-ENIGMA alles wieder von vorne an.

Was ist der Schüssel? Die drei Rotoren lassen sich beliebig einstellen. Da­ durch wird der Schlüssel aus drei Buchstaben definiert. Wenn der Schlüssel also ABC ist, dann steht der erste Rotor so, dass das A auf seiner Vordersei­ te an einer bestimmten Stelle steht, beim zweiten Rotor das B und beim dritten das C. Da es nur vergleichsweise wenige Schlüssel gab, musste der Schlüssel jeden Tag gewechselt werden.


Hier passierten beim Gebrauch der ENIGMA verhängnisvolle Fehler: Aus Bequemlichkeit benutzte man häufig «einfache» Buchstabenfolgen wie ABC oder AAA oder XYZ. Es ist klar, dass diese Kenntnis ein Geschenk für jeden Kryptaanalytiker ist (so lautet der vornehme Name der Codeknacker)Um die Sicherheit zu erhöhen, wurde später ein sogenanntes Steckerbrett hinzugefügt, das eine der Verschlüsselung vorgeschaltete Permutation darstellt.

Kryptaanalyse der ENIGMA


Die ENIGMA war schon in den Dreißiger Jahren des 20.Jahrhunderts ein Hauptziel der Kryptoanalytiker. Bereits 1932 gelang dem jungen genialen polnischen Mathematiker Marian Rejewski (1905-1980) ein erster folgen­ schwerer Einbruch in das ENIGMA-System. Es war ein Triumph, als er mit seinem Team eine ENIGMA nachbauen konnte. Mit diesen Erkenntnissen waren die Briten um Alan Turing (1912-1954), den Begründer der theoretischen Informatik, ab 1939 in der Lage, die ENIGMA vollständig zu analysieren. Das ermöglichte es ihnen, spätestens ab 1940 die Funksprüche der deutschen Wehrmacht zeitnah zu entschlüsseln. Viele Historiker sind der Meinung, dass dies den Verlauf des Zweiten Weltkriegs merklich beeinflusst hat. In jedem Fall war die Tatsache, dass die Alliierten die geheimen Funksprüche der deutschen Wehrmacht mitlesen konnten, von enormer strategischer Bedeutung.

Wie der Name «Zeichen im Nebel» schon andeutet, ist das ein Experiment, bei dem zunächst nicht ersichtlich ist, was man tun soll. Man sieht eine Grundplatte mit einem offenbar zufälligen Muster aus schwarzen und weißen kleinen Quadraten. Daneben liegt ein Rahmen, der eine Plexiglasplatte einfasst, auf der ebenfalls nur ein vollkommen zufälliges Schwarz-Weiß-Muster zu erkennen ist. Wenn wir den Rahmen auf die Grundplatte legen, geschieht ein «Wunder». Zwar ist es nicht ganz einfach, den Rahmen genau an die richtige Stelle einzupassen, aber wenn es gelingt, dann erkennen wir plötzlich etwas: Ganz deutlich tritt eine Figur, zum Beispiel ein Quadrat oder ein Ring, hervor.

Wie kommt es dazu? Zweimal Zufall ergibt ein Bild mit erkennbarem Inhalt? Ja. Das Experiment gehört zum Gebiet der «Visuellen Kryptographie», die erst 1995 durch eine Arbeit der israelischen Mathematiker Moni Naor (geb. 1961) und Adi Shamir (geb. 1952) begründet wurde. Die «Visuelle Kryptographie» eignet sich besonders gut zur Verschlüsselung von Bildern. Dabei wird die Information des Bildes auf zwei Folien verteilt. Aus jeder einzelnen Folie kann man nicht auf das Original­ bild schließen, mehr noch, aus ihm lässt sich überhaupt keine Information entnehmen. Beim Übereinanderlegen wird das Originalbild aber wieder sichtbar.

Wie man in eine Seifenblase schlüpft
Die Welt der Mathematik in 100 Experimenten

Autor: Albrecht Beutelspacher

C.H.Beck Verlag
1. Auflage 2015
gebunden, 319 Seiten
Größe: 24,8 x 12,4 x 2,9 cm
ISBN: 978-3406681356

 

 

 

Kulturexpress ISSN 1862-1996

vom 03. März 2016