Die Hölle auf Erden hat viele Gesichter: von den
Torturen der Sucht über das Leben mit Gewalt bis zu quälender
Armut und von der Beziehungshölle über die Tücken der Blutsbande
bis hin zur teuflischen Desinformation im digitalen Zeitalter.
Perspektiven- und erkenntnisreich beleuchteten namhafte Experten
beim 22. Philosophicum 2018 geradezu infernalische Aspekte des
Lebensalltags. Lebhafte Diskussionen und der große Anklang beim
Publikum verdeutlichten das Erfolgsrezept des Symposiums, dessen
Zutaten kein Geheimnis sind.
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Weit über 600 Teilnehmer aus nah und fern fanden sich beim 22.
Philosophicum Lech im weltbekannten Wintersportort ein, dessen
hochalpine Umgebung auch im Sommer von ganz besonderem Reiz ist.
Erst kürzlich, am 17. September wurde in Tannegg auf 1780 m in
Oberlech der „Skyspace Lech“ eröffnet: ein größtenteils
unterirdischer Bau mit öffenbarer Kuppel, der von dem international geschätzten Lichtkünstler James Turrell konzipiert wurde. Der Landeshauptmann von Vorarlberg
Markus Wallner kam bei seinen Grußworten zur Eröffnung des 22. Philosophicum Lech darauf zu sprechen: „Der Skyspace ermöglicht einen unglaublichen Blick in den Himmel –
und das Philosophicum jenen in die Hölle“, rühmte er die
fantastische Kombination.
Angesprochen wurde das Thema des Symposiums: „Die Hölle.
Kulturen des Unerträglichen“. Dass Letztere weder chaotisch noch
anarchisch sind, sondern vielmehr Regeln, Ritualen, Zwängen und
Wiederholungen gehorchen, erläuterte der wissenschaftliche
Leiter des Philosophicum Lech Konrad Paul Liessmann bereits in
seinem Vorwort zur Veranstaltung. Diesen auf den Grund zu gehen,
galt es an den letzten beiden Tagen des Symposiums. Während
zuvor am Freitag vor allem die Vorstellungswelten zur Hölle in
Kunst und Religion im Fokus standen, gerieten nunmehr die ganz
konkreten infernalischen Aspekte unserer Lebenswelt in den
Blick. Jene erschreckenden, doch leider oft auch alltäglichen
Facetten einer „Hölle auf Erden“, welche so manchem nur allzu
bekannt sind. Ganz gemäß dem Anspruch der international
renommierten Tagung, Antworten auf brennende Fragen der Zeit zu
geben und einen wertvollen Beitrag zu gesellschaftlich
relevanten Diskursen zu leisten, präsentierte sich Philosophie
lebensnah und brisant.
Von der Macht der Desinformation und dem Horror
der Sucht
Den ersten Vortrag am Samstag hielt der deutsche
Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, Professor für
Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und
scharfzüngiger Kommentator aktueller Debatten. Unter dem Titel
„Die Hölle der Desinformation. Spielregeln der
Wirklichkeitsordnung im digitalen Zeitalter“, entwarf er eine
Ethik für unsere Ära der Neuen Medien und grassierenden „Fake-News“.
Ausgehend vom Fallbeispiel eines der bestbezahlten
US-Radio-Talker, des Trump-Freunds und Verschwörungstheoretikers
Rush Limbaugh, übte er zunächst Kritik am Postulat, dass wir uns
im sogenannten postfaktischen Zeitalter befänden. Fake-News
seien bloß Oberflächenphänomene: „Indizien einer tektonischen
Verschiebung der Informationswirklichkeit, Symptome einer
elementaren Deregulierung des Wahrheitsmarktes“ wie er pointiert
anmerkte. Der Macht der Desinformation sei mit einer
Bildungsoffensive zu begegnen, welche von der digitalen zu einer
redaktionellen Gesellschaft überführen soll. Darunter versteht
er eine Gesellschaft, in der die Ideale und Maximen, die
Prinzipien und Ideen des guten Journalismus zu einem Element der
Gemeinbildung geworden sind. Seine Handlungsempfehlung: „Wir,
die wir früher das Medienpublikum genannt wurden, müssen
medienmündig werden, weil wir längst medienmächtig geworden
sind. Wir müssen medienmündig werden, weil eine Demokratie von
einem Minimum an kollektiv akzeptierter Information lebt. Und
weil Öffentlichkeit, verstanden als der geistige Lebensraum
einer liberalen Demokratie, gerade jetzt – in diesem Moment, neu
definiert wird.“
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Auf dem Foto Reinhard Haller |
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Im Anschluss referierte der prominente Psychiater, Neurologe und
Psychotherapeut Reinhard Haller über eine wahre
„Höllenfahrt“, zu der diverse legale und illegale Drogen sowie
substanzunabhängige Abhängigkeiten einladen: „Vom Himmel des
Rausches zur Hölle der Sucht“. Rausch und Sucht seien ein Modell
des Zusammenspiels, ja der Zusammengehörigkeit von elysischem
Glück und quälendem Siechsein, aber auch für die Limitierung
dieser beiden Pole durch den jeweils anderen, erläuterte der
Experte. Für die beste Erklärung für Sucht, dieses
vielwurzeligen, komplexen Phänomens hält er, dass es sich um den
Versuch einer Selbstheilung, einer „Selbstmedikation“ des
Abhängigen handelt. Allerdings eines gründlich danebengehenden.
„Statt zur positiven Entrückung kommt es zur pathologischen
Verrückung, schon gar nicht zur Entzückung, sondern zum Horror“,
brachte es Haller auf den Punkt. Das eigentliche Wesen der Sucht
würde in der Dominanz und Übermacht von Suchtmittel und
Suchtverhalten sowie im damit einhergehenden Autonomieverlust
des konsumierenden Individuums liegen – in der Hölle des
Gefangenseins. Die Therapie sei gleichsam ein Fegefeuer, sowohl
im Erleben des Patienten als auch in den Augen der Therapeuten.
Es ginge darum, den Rausch zu domestizieren – oder wie schon der
griechische Philosoph der Antike Platon meinte, „in der
Befriedigung seiner Begierden Herr seiner selbst zu bleiben“.
Über Armut als Verdikt und die (Selbst-)Zerstörungskraft
der Gewalt
Am Samstagnachmittag wurden zwei Phänomene behandelt, die im
Zusammenhang mit profanen Höllen immer wieder zitiert werden:
die Hölle des sozialen Elends, der Minderprivilegierung von
Menschen – und die Hölle der Gewalt. „Höllen der Armut“ lautete
der Titel des ersten Vortrags, gehalten von Philipp Lepenies,
Gastprofessor für vergleichende Politikwissenschaft und Direktor
des Forschungszentrums für Umweltpolitik an der Freien
Universität Berlin. Nach seiner Promotion war er über 10 Jahre
lang als Projektmanager in der bilateralen
Entwicklungszusammenarbeit tätig, sammelte also auch praktische
Erfahrung zu dem weitreichenden Thema. „Natürlich ist Armut oft
die Hölle. Aber kann es nicht auch der Himmel sein?“, stellte er
zunächst eine provokant wirkende Frage. Doch das Schwanken
zwischen diesen beiden Positionen bestimmt sozialpolitische
Debatten seit vielen hundert Jahren, wie er betonte. Auf der
einen Seite die Erkenntnis, dass Armut die Hölle sein muss. Auf
der anderen Seite die Position, dass die Armut – vor allem durch
vermeintlich zu generöse Unterstützung – vielleicht bereits der
Himmel auf Erden sein könnte. Jedenfalls seien es meistens die
Nicht-Armen, die sich ein Urteil darüber erlauben, wobei die
Reaktion der Nicht-Armen auf die Armen immer eine Einschätzung
bezüglich der Persönlichkeit der Armen beinhalte. So ist immer
wieder davon die Rede, dass Arme faul seien oder gar
Schmarotzer. Daraufhin erzählte er die Geschichte vom ersten
europäischen Sozialsystem in England, das mehr als 250 Jahre
überdauerte, bis das marktliberale Dogma sich durchsetzte, das
System abgeschafft wurde und es zu einer Verelendung der Massen
kam. Der Clou daran: Der politischen Überzeugung wurde mit Hilfe
von vermeintlich klaren und deutlichen wissenschaftlichen
Erkenntnissen größere Legitimität verschafft, obzwar diese
Genauigkeit vorgaukelten bzw. überhaupt auf erfundenen „Fakten“
beruhten.
Es folgte das Referat von Jörg Baberowski, Professor für
Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin und
Herausgeber etlicher Fachzeitschriften sowie Buchreihen zum
„Leben mit der Gewalt“. In diesem schilderte er anhand des
„Großen Terror“ der stalinistischen Gewaltherrschaft
beispielhaft, inwieweit zum einen sowohl psychologische als auch
politisch-gesellschaftliche Dynamiken Gewalt auslösen sowie
befördern und zum anderen, was die Gewalt aus den Opfern macht.
Ohne die Fähigkeit und den Willen zur Gewalt wäre der Mensch
außerstande, die Hölle ins Werk zu setzen. Der Mensch hat einen
“natürlichen Hang zum Bösen", konstatierte Immanuel Kant. Die
Gewalt gehöre zu Leben wie die Liebe und es gebe keinen Grund,
warum wir uns über ihre Allgegenwart wundern sollten. Auch im
Zweiten Weltkrieg waren es „ganz normale Männer“, die zu Mördern
an Zivilisten wurden, weil der Gehorsam in einer militärischen
Formation mehr zählte als Mitleid, weil die meisten Menschen
lieber Täter als Nonkonformisten sein wollen, so der
Gewaltforscher. Die Täter erniedrigen dabei nicht selten die
Opfer, damit sie die Last der Schuld nicht spüren. Auf
politischer Ebene hätten es die Tyrannen schon immer verstanden,
die Angst der Verschreckten zu ihrer Waffe zu machen. Die Angst
vor Gewalt ist dann am größten, wenn sie schweigt und niemand
weiß, wann sie wieder sprechen wird. Die Willkür ist also nur
eine scheinbare und besitzt eine gezielte Wirkung. Dem Terror
gelingt es, Menschen so zu organisieren, sagt Hannah Arendt, als
gäbe es sie gar nicht als Einzelne, sondern nur als einen
gigantischen Menschen, als Selbstabrichtungsmaschine.
Fortwährende Angst zerstört die Persönlichkeit. Wer die Hölle
gesehen und überlebt hat, kann an nichts anderes denken als an
die Gewalt, die ihm angetan wurde. Wir wollen die anderen
überleben. So kann man auch selbst in die Versuchung kommen,
Gewalt auszuüben. „Es ist nur ein kleiner Schritt, der uns vom
Abgrund trennt, und der Schlüssel, der die Pforten der Hölle
öffnet, liegt stets bereit“, so Baberowski warnend, der jedoch
abschließend betonte: Wir können einen Weg finden, der uns nicht
in die Hölle hineinführt.
Über Beziehungshöllen und die Tücken der
Blutsbande
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Auf dem Foto Adelheid Kastner |
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Die beiden Vorträge am Sonntagvormittag standen dann im Zeichen
jener höllischen Dynamiken, die auf dem Naheverhältnis von
Menschen gründen. Zunächst referierte Adelheid Kastner,
Psychiaterin, Psychotherapeutin und Leiterin der Klinik für
Psychiatrie am Kepler Universitätsklinikum in Linz, die auch als
Gutachterin in zahlreichen schweren kriminellen Fällen
Bekanntheit erlangte. Der berühmte Schlusssatz aus dem Stück
„Geschlossene Gesellschaft“ von Jean-Paul Sartre „L´enfer, c´est
les autres – Die Hölle, das sind die anderen“ fungierte als
Titel ihres Referats, in dem sie anhand zweier Fallbeispiele aus
ihrer Praxis fatale psychische Prägungen und Entwicklungen
aufzeigte, die zu schwerer Gewalt innerhalb von Beziehungen
führten. „Ich komme aus der forensischen Psychiatrie, ich bin
also sozusagen das, was man einen Experten für Höllen nennen
könnte“, meinte Kastner in ihrer typisch nonchalanten Art. Von
Beziehungshöllen könne man viel öfter sprechen, als man meinen
bzw. Betroffene gern zugeben würden, zu erkennen geben sie sich
meistens nur, wenn sie implodieren. Der springende Punkt, den
sie mittels der beiden Fälle von Beziehungstätern deutlich vor
Augen führte: „Um es mit Kant zu formulieren: beide haben der
Pflicht sich selbst gegenüber nicht genügt. Nämlich sich in
Sicherheit zu trennen, diese Zustände und Umstände zu beenden
und sich rechtzeitig aus dem für sie nachteiligen Kontext zu
entfernen.“ Die Psychiaterin verwies diesbezüglich auf Aspekte
von Persönlichkeitsstörungen, wie sie im Grunde auch Sartre in
seinem Stück anspricht: Diese Leute sind wie tot, weil sie in
der Wahrnehmung ihrer Probleme ihre Gewohnheiten nicht
durchbrechen können. Und es gibt eine Menge Leute, die unterwegs
in die Hölle sind, weil sie zu sehr vom Urteil anderer abhängen.
„In welchem Teufelskreis wir auch immer sind – ich denke, wir
sind frei und können durchbrechen“, meinte der
existenzialistische Philosoph. Und Kastner abschließend: Man
könnte auch sagen: „Die Hölle, das sind wir einander. Die Hölle
sind wir uns selbst. Oder wie T S. Eliot: Die Hölle, das sind
wir selbst.“
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Auf dem Foto Barbara Bleisch
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Abgerundet wurde die Vortragsreihe des Philosophicum Lech 2018
von Barbara Bleisch, Mitglied des Ethik-Zentrums der
Universität Zürich, Moderatorin der Sternstunde Philosophie SRF,
Essayistin und Jurymitglied des Tractatus-Preises. Unter dem
Titel „In der Familienhölle – Die Tücken der Blutsbande“
erörterte sie eingehend, inwiefern die höllischen Momente
innerhalb von Familien meist subtil sind. „Was macht eigentlich
ausgerechnet die existenziellste aller unserer Beziehungen so
gefährdend?“, fragte sie einleitend und identifizierte drei
Momente des Höllischen: Erstens den Schuldgedanken, bezüglich
dessen sie die zentrale These ihres neuesten, für Debatten
sorgenden Buches „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“
erläuterte. Väter und Mütter hätten von der Geburt ihrer Kinder
an nur eine Aufgabe: nämlich diese zur Selbstständigkeit zu
erziehen und in ein eigenes Leben zu entlassen. Zweites Moment:
Die Unentrinnbarkeit. So wiege das Scheitern in der Familie umso
schwerer, als es offenbar keine Möglichkeit gibt, einen
Schlussstrich zu ziehen. Drittes Moment: Die Unersetzbarkeit,
hinterlässt doch der Kontaktabbruch oder das Ableben eines
Elternteils oder Kindes eine klaffende Lücke, eine Leerstelle,
die – anders als hinsichtlich von Partnerschaften oder
Freundschaften – nicht gefüllt werden kann. Anschließend hob
Bleisch drei Vorteile bzw. „Dispensationen vom Höllischen“
hervor: Erstens die Familie als Trainingslabor, begegne man in
der Familie, anders als bei Freundschaften, doch nicht nur
Gleichgesinnten, was zu fürchterlich anstrengenden, aber auch
wunderbar horizonterweiterten Auseinandersetzungen führt.
Zweitens der Umstand, dass man sich die Familie nicht aussuchen
kann, ins positive gedreht: nämlich nicht auswählen zu müssen.
In einer Gesellschaft der überbordenden Möglichkeiten, z. B. was
die Auswahl von Partnern anbelangt, sei die Familie das
Entlastungsprogramm schlechthin. Drittens: Die
Bedingungslosigkeit. Freunde können sich aufgeben, Liebespartner
sich verlassen, Familienbeziehungen werden hingegen in aller
Regel bedingungslos anerkannt. Das Familienabenteuer lohne sich
auf alle Fälle.
Mit Spannung erwartet – das Thema des
Philosophicum Lech 2019
Wie sehr das heurige Thema wieder den Nerv der Zeit, heißt auch
das Interesse der Teilnehmer getroffen hat, war nicht zuletzt an
den lebhaften Publikumsdiskussionen im Anschluss an die Vorträge
abzulesen. Auch beim abschließenden Vorarlberg Brunch entspann
sich noch so manches Gespräch über die vielen Anregungen,
Erkenntnisse und neuen Perspektiven, die den hochkarätigen
Vorträgen zu verdanken waren. Bei seinen Dankesworten hob der
Bürgermeister von Lech Ludwig Muxel, die wie immer
hervorragende Vorbereitung sowie Auswahl und Einladung der
exzellenten Referenten durch Konrad Paul Liessmann hervor,
während dieser wiederum die ausgezeichnete Organisation der
Veranstaltung unterstrich, die in solch einer Qualität ansonsten
so gut wie nirgends zu finden sei. Der Höhepunkt am letzten Tag
des 22. Philosophicum Lech war wie immer die Verkündigung des
Themas im kommenden Jahr. „Die Werte der Wenigen. Eliten und
Demokratie“ lautet der Titel. Es bestehen kaum Zweifel, dass
auch das 23. Philosophicum Lech (25. bis 29.9.2019) wieder
Monate im Voraus ausgebucht sein dürfte. Die Online-Anmeldung
startet am 1. April 2019 um 00:00 Uhr. Ein Datum, das sich all
jene dick unterstreichen sollten, die am Zeitgeschehen und
spannender intellektueller Auseinandersetzung interessiert sind.
www.philosophicum.com