Abstract

Typ – Prototyp – Archetyp: Wolkenkuckucksheim - Heft 38

Foto (c) Kulturexpress, Meldung  Wolkenkuckucksheim | Cloud-Cuckoo-Land | Воздушный замок

 

 

Internationale Zeitschrift
zur Theorie der Architektur
ISSN 1430 - 3863

Typologie als Prozess der Typenbildung widmet sich der Typologie in der Architektur und damit einer der komplexesten Fragestellungen zwischen Theorie, Entwurf und Praxis. Die Ausdifferenzierung der Arbeits- und Produktionswelten infolge der Einführung des Web 2.0, die Entwicklung neuer Wohn- und Lebenspartnerschaftsmodelle zusammen mit veränderten Kommunikationsformen verlangen mehr denn je nach Herausbildung neuer Typen in Design, Architektur und Städtebau.

 

Längst sind die Debatten über jenen Punkt hinaus, an dem noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der individuellen Massenfertigung (mass customisation) die Typologie als ein überwundener, mithin altmodischer und reaktionärer Standpunkt (Carpo, Lynn, Hovestadt) stigmatisiert wurde. Allen Prophezeiungen zum Trotz fand das Gegenteil statt. Die alles durchdringende Medialisierung des Alltags führte zur weiteren Ausdifferenzierung individueller Bedürfnisse und infolgedessen zu einem Prozess der Typenbildung, der sein Ende noch lange nicht erreicht hat.

 

Unter Typologie soll die Wissenschaft von den Gebäudetypen, ihren spezifischen Ordnungen, Nutzungen und Formen, wie auch der Prozess der Typenbildung verstanden werden. Typologie ist ein zutiefst modernes Anliegen, deren Anfänge jedoch keineswegs, wie allgemein angenommen, im Zeitalter der Rationalität und Aufklärung liegen, sondern weit hinter das 18. Jahrhundert zurückreichen. Besonders die Fokussierung auf die Industrialisierung und die Massengesellschaft, auf Werkbund (Muthesius, van de Velde, Behrens) und Bauhaus (Gropius, Meyer) verschleiert die Tatsache, dass mit der Herausbildung einer städtischen Morphologie (Palazzo, Zentralbau, Villa) und eines Typenrasters die Typologie ihren Anfang in der Renaissance hatte. Das heißt, dass die Typologie eben so sehr ein Projekt des Renaissancehumanismus ist wie eines der „Typen schaffenden Maschine“ (Gropius).

 

Gropius begründete 1926 die Beschäftigung mit der Typologie noch mit den, wie er schrieb, in der Hauptsache gleichartigen „Lebensbedürfnissen der Mehrzahl der Menschen“. Auf anthropologischer Grundlage erkannte er in der Typenbildung ein gesellschaftliches Emanzipationspotenzial, das in der normierten, standardisierten und elementierten Maschinenproduktion sein Medium hatte. Heute, in der digital und medial konfigurierten Gesellschaft, scheint dagegen der Aspekt des Kollektiven hinter der Individualisierung der Lebenskonzepte und -vorgänge zurückzutreten.

 

Zwischen den zwei Polen eines humanistisch-anthropologischen und eines technisch-funktionalistischen Ansatzes zeigt sich die ganze historische Tiefe und theoretische Breite der Thematik. Im Kontext von Typ, Prototyp und Archetyp fragt Heft 38 nach der Typologie als Prozess der Typenbildung und damit nach den Ideen, die den Modellen als Regel dienen. Es gilt, die Typologie vom verhärteten Image eines katalogisierten, formelhaften Wissens und eines funktionalistischen Schubladendenkens zu befreien. Ziel ist es dabei, die in den Debatten um die Postmoderne und den Digital Turn aufgebauten Klischees und Stereotypen kritisch zu hinterfragen.

 

Gerade unter dem Eindruck der heutigen Rekonzeptualisierung der Typologie eröffnen sich vielfältige Fragen in Bezug auf die materiell-funktionalen, sprachlich-soziologischen sowie ethisch-ästhetischen Grundlagen. Welches sind die Parameter und Mechanismen der Typenbildung im Allgemeinen? Welches sind es im Zeitalter der analogen Maschine, und wie verändern sich diese in der heutigen digitalen und plural konzipierten Informationsgesellschaft?

 

Die Kuratoren von Heft 38 bitten um die Einsendung von Beiträgen, die die Frage von Typ, Prototyp und Archetyp aus den unterschiedlichen Perspektiven (siehe Anhang) beleuchten. Dies ist mit der Hoffnung verknüpft, mit Heft 38 einen umfassenden Überblick über die historischen wie aktuellen Prozesse der Typenbildung, des Wandels ihrer Konzeption, Erscheinung und gesellschaftlichen Funktion zu geben.

 

Erinnerung/Reminder:
Call for Abstracts
Frist: 2. April 2018
Deadline: April 2, 2018
 

Anhang

Versteht man die Typologie als dynamischen Prozess der Typenbildung, ergeben sich eine Reihe von Untersuchungsfeldern und Begriffen, denen für die Klärung des Themas zentrale Bedeutung zukommt.

 

Begriffsbestimmung  Wie definieren sich in der Architektur Typ, Prototyp und Archetyp und die mit ihnen assoziierten Verfahren wie Variation, Adaption und Transformation? Die Frage stellt sich vor dem Hintergrund, dass, wo kein Haus dem anderen gleicht, Architektur immer schon dem Paradigma der individuellen Massenfertigung folgte. Wie unterscheiden sich dann Typ und Prototyp in der Architektur? Was bedeutet das für den Begriff der Modernität in der Architektur im Gegensatz zur Maschinenproduktion?

 

Material und Konstruktion Andererseits waren Normierung, Standardisierung und Elementierung von Bauteilen ebenso immer schon Bestandteil der Architektur, auch vor dem Aufkommen der industriellen Massenfertigung. Mit den weit in die Antike zurückreichenden Bauformen des Megaronhauses, Peristyltempels oder der Basilika gehört die Typologie zu einem der ältesten Verfahren der Architektur. Das hat auch eine materialästhetische und baukonstruktive Seite, wo der normierte Backstein oder Dachziegel, die standardisierten Säulen und die Wiederverwendung von Form- und Schalelementen geradezu die Voraussetzungen waren für die Typenbildung. Welches ist der Beitrag von Material und Konstruktion zur Typologie in der Architektur? Wenn nach Kant Architektonik soviel bedeutet wie die „Kunst der Systeme“, ist dann die Typologie nicht eine der Grundvoraussetzungen für Architektur schlechthin?

 

Zeit, Geschichte, Identität Typen entstehen nicht durch Erfindung, sondern sind Resultat von über lange Zeiträume hinweg stattfindenden Entwicklungen. In ihnen spiegeln sich konkrete Modelle der Repräsentation, der gesellschaftlichen Ordnung und der ökonomischen Organisation. Wo die Typologie unter dem Einfluss spezifischer kulturhistorischer Konstellationen steht, ist die Typologie eng verbunden mit Fragen der kulturellen Identität. Typenbildung ist Identitätsbildung, wie am Schwarzwaldhaus, der reetgedeckten ostfriesischen Fischerkate, dem burgenländische Vierkanthof oder dem venezianische Palazzo sichtbar wird. Anhand von Typen findet kulturelle Identifikation statt, Typen geben Kulturen Stabilität. Diese Eigenschaften teilen sich die Typen mit den Ornamenten, Zierformen oder Wandmalereien. Welches ist die Beziehung zwischen Ornament und Typ? Lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen der Abschaffung der klassischen Ornamente in der Moderne und der gleichzeitigen Forcierung der Typenbildung im Kontext von Maschinenproduktion, Sachlichkeit und Konstruktivismus?

 

Sprache und Rhetorik Über die funktionalen, konstruktiven und materiellen Aspekte hinaus konstituieren die Typen die Grundelemente einer Sprache der Architektur. Aldo Rossi und Oswalt Mathias Ungers hatten dies in den 1960er-Jahren wieder ins Bewusstsein gebracht. Wie die Tropen und Redefiguren in der Rhetorik wird die Architektur mit den Typen berede. Typen teilen etwas über die Zeit, die Zwecke, den Gebrauch und die Kultur im Allgemeinen mit. Mit den Typen wird die Architektur allgemeinverständlich, mit ihnen verlässt sie den Bereich des Elitären und wird populär. Wie spricht die Architektur durch die Typologie? Wie wird durch Typen Bedeutung generiert? In welcher Beziehung steht dies zu den Zeichen- und Bildverfahren und, wiederum, zu den Ornamenten?

 

Stadt und Macht „Baukunst oder Revolution“ proklamierte Le Corbusier im Zusammenhang mit den „Häusern in Serienbau“, dem Typenhaus „Citrohan“ oder der „Villa am Strand des Meeres, aus Typenelementen erbaut“. Le Corbusier sprach von den Typen als „Ausleseprodukten“. Typenbildung in Architektur und Städtebau war einer der wiederkehrenden Diskussionspunkte auf den CIAM-Kongressen. Wie die Diskussionen auf den CIAM-Kongressen zeigt, kann Typenbildung ein Instrument der Pluralisierung von Gesellschaft wie auch ein Mittel zu ihrer Kontrolle sein. In dem zweiten Sinne zielt die Typologie auf Vergesellschaftung in einem Top-down- Prozess. Inwieweit ist die Typologie dann nicht auch ein Medium der Macht, politischer Macht und der Steuerung der Massen? Welche Rolle spielen dabei die Architekten, die Gesetzgebung und die städtischen Verwaltungen?

 

Morphologische Variation, Baukunst und Poetik Typologien tragen auch zur Stimmung und Atmosphäre von Orten bei, wie die morphologische Variation des venezianischen Palazzos zur Stimmung Venedigs oder die der oberfränkischen Sandsteinfassaden zu unverwechselbare Atmosphären. In der variierenden Wiederholung, in der Transformation, Kombination und Rekombination von standardisierten Elementen wie Fenster und Türen, Stützen und Säulen, Treppen und Rampen zeigt sich, weit über Organisation und Funktion hinaus, ein poetisches Potenzial. Muss man nicht in Albertis Forderung nach „varietà in unità“ oder Vielfältigkeit in der Einheit einen frühen Versuch sehen, nicht nur die Typologie zu definieren, sondern darüber hinaus ihr sinnlich-poetisches Potenzial zu bestimmen? Welches sind die Mittel dazu? Was wird erzählt? Wird überhaupt erzählt? Welches ist der Beitrag der Typologie zur Baukunst, zu einer aktuellen Baukunst? Welches sind die Verfahren und die Inhalte?

 

Hybrid und Typologie Durch die veränderten Anforderungen und die damit verursachte stetige Umnutzung und Migration von Typen entstehen eigene Logiken der Nutzung von Typen. Das zeigt, dass Typen bei weitem nicht alles festlegen, im Gegenteil, sie schaffen erst den nötigen Freiraum für Adaption und Veränderung. Das betrifft heute vor allem die Möglichkeit von Nachnutzung und Umbau von Bestandsgebäuden. Müssen deswegen Neubauten nicht gerade für hybride Nutzungen geschaffen werden, um über möglichst lange Zeit den programmatischen Wandel ihrer Nutzung zu ermöglichen? Es stellt sich die Frage, ob der Hybrid als Inkubator der Stadt des 21. Jahrhundert (Holl) inzwischen ein eigener Typ geworden ist. Oder bildet er einfach einen Überbegriff für typologische Mischformen, die noch im Prozess der Ausdifferenzierung sind?

 

Andere Themen sind die Urhütte als Archetyp, die Frage nach den typologischen Analyse- und Entwurfsmethoden, aber auch die nach der Rolle der Bauhüttenbücher und Baumusterbücher für die Herausbildung von verbindlichen Typen. Übertragen auf unsere Zeit stellt sich die Frage nach den algorithmisch-parametrischen Entwurfsverfahren und die nach den Denkmustern als „verinnerlichte Muster“ (Panofsky, Bourdieu) im Sinne eines „Zusammenspiels bereits im voraus assimilierter Grundmuster“. Die Frage nach der Typologie bleibt eine der komplexen Fragen in der Architektur, wo praktische und konzeptuelle, theoretische wie auch philosophische Aspekte auf vielfältige Weise ineinander verschränkt sind.

 

www.cloud-cuckoo.net

 

Siehe auch: Wolkenkuckucksheim: Vermischungen in Architektur und Landschaftsarchitektur

 

 

Kulturexpress ISSN 1862-1996

vom 13. März 2018