Marktkommentar

Industrieanteil in der EU stabilisiert sich

Meldung: Deutsche Bank research

Auf dem Foto Eric Heymann, Deutsche Bank research

Vor knapp vier Jahren hatte sich die EU-Kommission das Ziel gesetzt, den Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Bruttowertschöpfung von damals 15,5 Prozent auf 20 Prozent bis 2020 zu erhöhen. Dieses Ziel wird voraussichtlich verfehlt. Denn 2015 lag der Industrieanteil erst bei 15,6 Prozent und damit kaum höher als 2012.

Der Industrieanteil in der EU ist seit 2012 zumindest nicht mehr weiter gesunken. Ferner nahm die industrielle Bruttowertschöpfung in der EU in den letzten Jahren sowohl in nominaler als auch in realer Betrachtung (leicht) zu. In einzelnen EU-Staaten hat sich die Bedeutung der Industrie sehr unterschiedlich entwickelt. Auffällig ist, dass der Industrieanteil in den drei großen osteuropäischen EU-Ländern seit 2012 stark zugenommen hat. Leichte Zugewinne verzeichnen Spanien und Italien. In Deutschland ist der Industrieanteil 2015 leicht gesunken, er liegt mit 22,8 Prozent aber noch immer weit über dem EU-Durchschnitt.

Die EU-Kommission hatte sich im Herbst 2012 das Ziel gesetzt, den Anteil des Verarbeitenden Gewerbes (im Folgenden auch als Industrie bezeichnet, NACE-Code C) an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung der EU auf 20 Prozent zu erhöhen. Damals lag der Industrieanteil bei 15,5 Prozent; er war in den Jahren zuvor tendenziell gesunken (Anteil 1995: 19,8 Prozent). Um dieses Ziel zu erreichen, setzte die EU u.a. auf mehr Investitionen in neue Technologien, eine Stärkung des EU-Binnenmarktes oder verbesserte Finanzierungsmöglichkeiten gerade für kleine und mittelständische Unternehmen. Die höhere Wertschätzung für die Industrie von Seiten der Politik hatte und hat mehrere Gründe: So verzeichnete Deutschland auch dank seines hohen Industrieanteils sowie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit industrieller Unternehmen in den Jahren nach der Wirtschaftskrise 2008/09 höhere Wachstumsraten als viele andere EU-Länder. Zudem erkennt die Politik zunehmend an, dass Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes einen hohen Anteil an den F&E-Ausgaben der Wirtschaft haben. Beispielsweise liegt dieser Anteil in Deutschland regelmäßig über 80 Prozent. Starke Industrieunternehmen sind ferner wichtige Auftraggeber für unternehmensnahe Dienstleister und können aufgrund ihrer überdurchschnittlich hohen Exportorientierung neue Absatzmärkte erschließen.

Zwischen der Zielformulierung durch die EU im Herbst 2012 und dem Jahr 2020 ist beinahe die Hälfte der Zeit verstrichen. Insofern lohnt sich ein Zwischenfazit. Gemessen am angestrebten Industrieanteil fällt dabei das erste Urteil negativ aus. 2015 betrug der Anteil der Industrie an der gesamten Bruttowertschöpfung der EU „nur“ 15,6 Prozent; dem eigentlichen Ziel ist man also kaum näher gekommen. Dass das ursprüngliche politische Ziel ohnehin überambitioniert ausfiel, verdeutlicht folgende Beispielrechnung: Wenn ab 2012 die Bruttowertschöpfung aller Wirtschaftsbereiche außer dem Verarbeitenden Gewerbe um 1 Prozent p.a. gewachsen wäre, hätte die Industrie pro Jahr um 5 Prozent wachsen müssen, um bis 2020 auf den angestrebten Anteil von 20 Prozent zu kommen. Die Entwicklung seit 2012 lässt sich aber auch positiver interpretieren. Denn zum einen ist der Industrieanteil in den letzten Jahren zumindest nicht mehr weiter gesunken. Zum anderen nahm die absolute Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe der EU zwischen 2012 und 2015 sowohl in realer (+3,8 Prozent) als auch in nominaler Betrachtung (+9 Prozent) zu. Dies ist wahrlich keine berauschende Dynamik, aber immerhin konnte die Industrie mit dem Wachstumstempo der Dienstleistungssektoren mithalten, was ihr in den Jahren vor der globalen Wirtschaftskrise 2008/09 nicht gelungen war.

Industrieanteil steigt in vielen osteuropäischen Ländern

Ein Blick auf die großen EU-Länder zeigt, dass sich der Industrieanteil seit 2012 unterschiedlich entwickelt hat. Auffällig ist, dass der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung in den drei großen osteuropäischen Ländern (Polen, Tschechien, Ungarn) zum Teil spürbar gestiegen ist; in Tschechien beispielsweise um 2,3 Prozent-Punkte. Hier zeigt sich die anhaltende Integration dieser Staaten in die globalen industriellen Wertschöpfungsketten. In diesen drei Volkswirtschaften nahm die absolute Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes jeweils sehr viel stärker zu als im Durchschnitt der EU. Deutlich weniger Veränderungen beim Industrieanteil gab es in den großen westeuropäischen Ländern. Italien, Spanien und Deutschland verzeichneten ein Plus von 0,4 Prozent-, 0,2 Prozent- bzw. 0,1 Prozent-Punkten; Frankreich und UK ein Minus von 0,1 Prozent-Punkten. In Frankreich, Italien und Spanien konnte damit in den letzten Jahren der zuvor zu beobachtende langjährige Bedeutungsverlust der Industrie gestoppt werden. Gleichwohl fiel der nominale Zuwachs der Bruttowertschöpfung zwischen 2012 und 2015 in diesen Ländern nur etwa halb so hoch aus wie im Mittel der EU. Dies spiegelt zum einen die insgesamt nur geringe wirtschaftliche Dynamik der betreffenden Länder wider. Zum anderen verdeutlicht es die Tatsache, dass der private Verbrauch im Betrachtungszeitraum der Hauptwachstumstreiber war, wovon tendenziell Dienstleistungen stärker profitieren. Dagegen entwickelten sich die Investitions- und Exportnachfrage, traditionelle Domänen der Industrie, bis zuletzt schwach. Deutschland kommt trotz leichter Verluste im Jahr 2015 noch immer auf einen hohen Industrieanteil (2015: 22,8 Prozent). Der nominale Zuwachs seit 2012 liegt etwas über dem Durchschnitt der EU (+10,5 Prozent versus +9 Prozent). In Summe ist der Industrieanteil zwischen 2012 und 2015 in 11 von 28 EU-Ländern gesunken, in drei Ländern hat er stagniert (dabei liegen noch keine Daten für Bulgarien und Rumänien vor).

Auf europäischer und nationaler Ebene gibt es eine Vielzahl von Programmen und Maßnahmen, die dazu dienen sollen, die Industrie in Europa zu stärken. Gleichwohl zeigen die oben skizzierten Daten, dass sich ein bestimmter Industrieanteil nicht einfach durch politische Maßnahmen erzwingen lässt. Einzelne EU-Länder verfolgen unterschiedliche „Geschäftsmodelle“, die zu einem großen Teil historisch gewachsen sind und nicht beliebig kopiert werden können. Wir haben in einem Bericht 2013 dafür plädiert, dass die EU bzw. die Nationalstaaten auf gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen für alle Unternehmen statt auf industriespezifische Maßnahmen setzen sollten. Dazu zählen u.a. Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur, ein offenes Investitionsklima, mehr Freihandel mit Drittstaaten oder bezahlbare Energiepreise. Die politische Botschaft, dass eine starke Industrie für eine erfolgreiche Volkswirtschaft grundsätzlich wichtig ist, bleibt richtig. Fraglich ist jedoch, ob dies an einem konkreten Ziel für einen bestimmten Industrieanteil festgemacht werden sollte. Letztlich kann bezweifelt werden, dass ein steigender Industrieanteil für alle EU-Länder pauschal der richtige Weg ist – nicht zuletzt, weil hier der Wettbewerb durch die Schwellenländer weiterhin intensiv bleiben wird.

Die aktuelle politische Situation in der EU ist nicht einfach; zu nennen ist der Brexit-Beschluss oder das Erstarken politischer Extreme. In wirtschaftlicher Hinsicht ist die Dynamik in der EU nach wie vor nicht außerordentlich hoch. Die Wachstumsperspektiven in wichtigen Absatzmärkten außerhalb Europas haben sich in den letzten Monaten eher eingetrübt. Zudem haben die (unkonventionellen) expansiven geldpolitischen Maßnahmen der EZB bis jetzt nicht den erhofften positiven Effekt auf die Investitionstätigkeit entfaltet. Die zum Teil auch strukturelle Schwäche des Welthandels dürfte bei eher zunehmenden Widerständen gegen wichtige internationale Handelsabkommen wohl nicht so schnell überwunden werden – eine besondere Belastung für die Industrie. Alles in allem ist das Umfeld für Unternehmen in der EU also herausfordernd. Zu Recht werden in diesem Umfeld von vielen Ökonomen (weitere) Strukturreformen angemahnt; diese sollten darauf abzielen, unternehmerisches Engagement über alle Wirtschaftsbereiche hinweg (und nicht nur in der Industrie) zu stimulieren. Dies erfordert auch ein Mindestmaß an Geduld, denn Strukturreformen wirken mit Zeitverzögerung, führen im Idealfall aber längerfristig zu besseren Wachstumsperspektiven.

Ein Marktkommentar von Eric Heymann und Philipp Büchner, Deutsche Bank research

 

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Kulturexpress ISSN 1862-1996

vom 21. September 2016