Meldung: MKG, in Hamburg, den 04. 02.
2015 |
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Im Winter verborgen, im Sommer öffentlich zur Schau
getragen: Tattoos sind heute allgegenwärtig. Als kulturhistorische
Konstante sind sie aber weit mehr als ein Massenphänomen und kultiges
Modeaccessoire. Dennoch ist stets eine kritische Hinterfragung der
Praktiken wünschenswert. Der freie Entscheidungswille des Einzelnen und
die menschlich durchdrungene und bildhafte Darstellung stehen im
Vordergrund im Museum für Kunst und Gewerbe.
Assoziationen an Künstler wie Arnulf Rainer, in der Alten Pinakothek
München bis 19. Sept. 2015 oder Annegret
Soltau mit ihren Fotovernähungen sind erlaubt, sind jedoch nicht
Bestandteil der Ausstellung im MKG in Hamburg. Die Künstlerin ist dafür in
einer Avantgarde Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle zu sehen, die
vom 13. März bis 31. Mai dauert. Eine völlig andere künstlerische Gattung
bildet im Vergleich dazu die Körperbemalung auch Bodypainting genannt. Das Tattoo
ist
eigenständiges Sujet aufgrund seiner unter die Haut gehenden Technik.
Erwähnenswert ist die Tattoo Convention Frankfurt vom 20. - 22. März auf
dem Frankfurter Messegelände.
Tattoos
erzählen persönliche Geschichten, schaffen Identität und Zugehörigkeit,
sollen schmücken, heilen und schützen, sie faszinieren oder stoßen ab,
werden mystifiziert oder sind Teil von Trends. Die Ausstellung Tattoo
lotet erstmals das breite Spektrum dieser alten und noch immer sehr
lebendigen Kulturtechnik im Fokus von Kunst und Design aus, stellt
internationale Positionen vor und greift aktuelle Diskussionen auf. Sie
beleuchtet die Ambivalenz des Tattoos zwischen Auszeichnung, sozialer
Zuordnung, Identitätsmerkmal und Stigmatisierung in verschiedenen
Kulturen, sozialen Schichten und Epochen. Ein Schwerpunkt liegt auf der
wechselseitigen Beeinflussung von Kunst, traditioneller Tätowierpraxis
und visueller Gestaltung. Tattoo zeigt über 250 Arbeiten aus dem späten
19. Jahrhundert bis zur Gegenwart: Darunter Fotografien,
Farbholzschnitte, Gemälde und Skulpturen, Videoarbeiten und
Audioinstallationen sowie Vorlageschablonen und historische
Hautpräparate.
Tätowiergeräte von einfachen Naturwerkzeugen bis zu filigranen
Präzisionsmaschinen, Farben und Pigmente vermitteln ein Bild von der
handwerklichen Praxis. Mit der Schau blickt das MKG auch zurück auf die
traditionsreiche Geschichte der Hamburger Tattoo-Szene, deren Wiege im
Hafenmilieu des späten 19. Jahrhunderts zu finden ist. Bisher
unveröffentlichte historische Fotografien dokumentieren die typischen
Tätowierungen der Hamburger Arbeiterschaft um 1890. Tattoo-Legenden wie
Christian Warlich („der König der Tätowierer“) und Herbert Hoffmann
stehen für eine vielfältige und ausdrucksstarke Kunstform, die immer
neue gestalterische Experimente hervorbringt. Einen Einblick geben
Arbeiten lokaler Tattoo-Künstler, die sich von der Sammlung des Museums
inspirieren ließen. Eine Videoprojektion zeigt zahlreiche Arbeiten
renommierter Tätowier und Tätowiererinnen aus der aktuellen
internationalen Szene, die sich durch eine Vielfalt an Stilrichtungen
und neuen künstlerischen Bewegungen auszeichnet.
Die
traditionelle Kulturtechnik: Weltweit nutzen viele Kulturen die
menschliche Haut als Bildträger. Die Tradition der Tätowierung gehört zu
den frühen Kunstformen und ältesten Handwerkspraktiken. Sie prägt heute
noch das Alltagsbild. Die Ausstellung stellt ausgewählte Beispiele vor.
Die Gesichtstätowierungen der Chin-Frauen in Birma etwa sind Teil eines
Rituals, das den Übergang von der Kindheit zur Welt der Erwachsenen
markiert. Mit Hilfe von Dornen oder Nadeln bringen Tätowiererinnen
Muster in die Haut ein, die sich von Familienclan zu Familienclan
unterscheiden. Auch die neuseeländischen Tā Moko, die
Gesichtstätowierungen der Maori, geben Auskunft über die
Familienzugehörigkeit und soziale Stellung der Person. Jede
Gesichtspartie ist bestimmten Informationen vorbehalten, so zeugt eine
Tätowierung der Stirnmitte etwa von einem hohen Status. In Thailand sind
sakrale Tätowierungen – Sak Yant genannt – weit verbreitet. Sie sollen
ihre Träger vor Unglück bewahren und sie unterstützen, ein moralisch
korrektes Leben zu führen. Tattoos haben auch in Japan eine lange
Tradition, die erste Erwähnung stammt aus dem 3. Jahrhundert. Die
Gestaltung folgt dabei einer besonderen Harmonie und Eleganz und
zeichnet sich durch klar gegliederte Farbbereiche aus. Die Tattoos
erstrecken sich oftmals über große Körperflächen und fügen sich zu einem
zusammenhängenden Bild. Die Motive stellen häufig Themen traditioneller
Holzschnitte oder mythologische Wesen dar, die besondere Eigenschaften
des Trägers hervorheben sollen. Der Drache steht beispielsweise oft für
Männlichkeit, Macht oder den Himmel. Da Tätowierungen von 1870 bis 1948
in Japan verboten waren, werden sie lange Zeit mit dem kriminellen
Milieu der Yakuza, einer japanischem Mafia-Organisation, in Verbindung
gebracht.
Verbreitung
der Tätowierung in der westlichen Welt: Im 18. und 19. Jahrhundert
prägen illustrierte Reiseberichte den Blick auf die fremden Kulturen in
Übersee und wecken die Neugier für die damals exotischen
Tätowierpraktiken. Das Wort Tattow aus dem polynesischen Sprachgebrauch
findet Erwähnung in James Cooks Forschungsberichten über seine
Expeditionen in die Südsee im 18. Jahrhundert. Durch die sehr beliebten
frühen ethnografischen Zeichnungen und Stiche sowie später folgende
Fotografien erfolgt eine Popularisierung der modernen Tätowierung in der
westlichen Welt. Die Kunst des Tätowierens steht anfangs oftmals für das
erotisierte Fremde und eine magisch-mythische, von Kulten und Riten
begleitete Welt. Tattoos erleben in Europa und in Amerika in der Zeit
bis zum Ersten Weltkrieg eine Blütezeit. So sind selbst die Angehörigen
der amerikanischen Oberschicht und nahezu aller europäischen
Fürstenhäuser – einschließlich des Deutschen Kaiserhauses – tätowiert.
In dieser Zeit gilt diese Form des Körperschmucks als Ausdruck von gutem
Geschmack. Im 19. Jahrhundert bildet sich aber vor allem im Bürgertum
eine ambivalente Haltung gegenüber der Tätowierung heraus. Faszination
und Ablehnung liegen in der westlichen Tattoo-Geschichte folglich eng
beieinander und begründen den Doppelcharakter der Tätowierung als Stigma
und Auszeichnung.
Codes und
Umdeutungen: Durch die Verbreitung des Tätowierens in verschiedenen
gesellschaftlichen Schichten und Gruppierungen vervielfältigen sich im
letzten Jahrhundert die Funktionen und Bedeutungen des Tattoos. Vor
allem die Doppeldeutigkeit von Stigma und Auszeichnung zeigt sich
symptomatisch im milieuspezifischen Umgang mit Tätowierungen. Während
Seeleute und Soldaten mit exotischen Bildmotiven ihre Reisetätigkeit
dokumentieren, entwickeln sich im kriminellen Milieu Tätowierungen
regelrecht zu Erkennungszeichen. Im Kontext der aufkommenden
Fahndungsfotografie erlangen sie bereits Anfang des 20. Jahrhunderts als
erkennungsdienstliches Identifikationsmerkmal besondere Bedeutung. In
russischen Gefangenenlagern werden im späten 19. Jahrhundert
Tätowierungen und Brandmarkungen systematisch von staatlicher Seite
eingesetzt, um Straftäter zu kennzeichnen. In der Folge unterlaufen
russische Berufsverbrecher diese Form der Stigmatisierung jedoch mit
ihren informellen Tätowierungen. Sie wandeln traditionelle Motive ab und
entwickeln daraus einen geheimen Zeichencodex, der Gruppenzugehörigkeit,
Verurteilungen oder den Rang in der kriminellen Hierarchie sichtbar
macht. Auch für die stark tätowierten Mitglieder der
lateinamerikanischen Gangs der Mara Salvatrucha und M-18 besitzen die
auf der Haut zur Schau gestellten Schriftzüge und Symbole eine wichtige
Erkennungs- und Gemeinschaftsfunktion. Der französische Fotograf und
Filmemacher Christian Poveda hat sie dokumentiert. Die Arbeit des
Österreichers Klaus Pichler spürt der gegenwärtigen Bedeutung von
Gefängnistätowierungen nach und gewährt einen fotografischen Einblick in
Formen der Haftbewältigung innerhalb des Strafvollzugssystems.
Frauen und
Tattoos: Ein weiterer Aspekt der Ausstellung widmet sich mit zahlreichen
Objekten dem Verhältnis von Frauen und Tattoos. Historische Fotografien
zeigen schlaglichtartig die wechselhafte Geschichte von der Ausstellung
stark tätowierter weiblicher Körper als Jahrmarktattraktion in den
1920er Jahren bis zu den Glamourgirls in den Varietés der 1960er Jahre.
Schließlich stellt sie auch ausgewählte Pionierinnen vor, die sich
selbstbestimmt in dem von Männern dominierten Bereich behaupteten.
Frauen sind mittlerweile nicht mehr aus der Tattoo-Kultur wegzudenken
und spielen als Künstlerinnen eine wichtige Rolle in der
zeitgenössischen Szene.
Tattoos in
der zeitgenössischen Kunst: Das komplexe Bedeutungsspektrum spielt auch
in der zeitgenössischen Kunst eine große Rolle. So beschäftigt sich etwa
die Japanerin Fumie Sasabuchi in ihren skulpturalen und fotografischen
Arbeiten mit dem Wechselspiel zwischen traditionellen Tattoo-Motiven der
japanischen Yakuza und der Ästhetik westlicher Massenkultur. Auch
Enrique Martys Skulpturen aus der Serie Art is Dangerous greifen auf die
Yakuza-Ikonografie zurück, um in Verbindung mit der grotesken Anmutung
der Figuren ironische Fragen nach der Rolle der Kunst und der Bedeutung
von Tätowierungen aufzuwerfen. Der spanische Konzeptkünstler Santiago
Sierra thematisiert in seiner filmischen Arbeit die Tätowierung aus
gesellschafts- und kapitalismuskritischer Sicht. Er bezahlte Angehörige
sozialer Randgruppen dafür, sich in einer Performance eine durchgehende
Linie auf den Rücken tätowieren zu lassen. Mit der bewusst unsauber
gesetzten Linienführung verweist er auf deren prekäre Stellung und die
damit verbundene gesellschaftliche Stigmatisierung. Der polnische
Künstler Artur Żmijewski setzt sich schonungslos und provokativ mit der
Tätowierpraxis auseinander, die in den nationalsozialistischen
Konzentrationslagern betrieben wurde. Sein Video 80064, das in der
Rezeption kontrovers diskutiert wird, zeigt den 92-jährigen
Ausschwitz-Überlebenden Josef Tarnawa, den der Künstler zum Nachstechen
seiner verblassenden Lagernummer überredet hat. Einerseits wird Tarnawa
dadurch ein zweites Mal stigmatisiert, andererseits erhält die Nummer
auf seinem linken Unterarm die Funktion eines schockierenden Mahnmals.
Das aktive Erinnern, so Żmijewski, bewege sich heute oftmals in viel zu
geordneten Bahnen. Das Brandmal und die unfreiwillige Tätowierung seien
heute in der westlichen Tattoo-Geschichte in den Hintergrund gerückt,
die Praktiken während des Zweiten Weltkrieges blieben aus Sicht des
Künstlers jedoch in tiefer Erinnerung.
Die
Spannung zwischen dem Tattoo als Kunstwerk und seiner Existenz auf der
„lebendigen Leinwand“ thematisiert etwa der belgische Konzeptkünstlers
Wim Delvoye. In der Ausstellung ist das tätowierte Hausschwein Donata zu
sehen, das der Künstler 2005 auf seiner chinesischen „Art Farm“ unter
Narkose und mit Hilfe mehrerer professioneller Tätowierer verzieren
lässt. Delvoye stellte es als lebendiges Kunstwerk und, nach dessen Tod,
in präpariertem Zustand aus. Die zweite in der Ausstellung gezeigte
Arbeit von Delvoye nimmt diesen Gedanken auf und artikuliert kritische
Fragen nach Wertvorstellungen im Kunstmarkt, Macht und Verfügungsrecht
über den menschlichen Körper als Kunstobjekt: Der Schweizer Tim Steiner
lässt sich zwischen 2006 und 2008 ein Werk des Belgiers auf den Rücken
tätowieren. 2008 wurde es von einem Hamburger Kunstsammler angekauft,
der so das Recht erwarb, das Werk Tim als Leihgabe weiterreichen,
veräußern, vererben und die Haut nach dem Tod konservieren zu dürfen.
Seither wird diese Arbeit international kontrovers diskutiert. In der
Hamburger Ausstellung ist er am 11. und 12. April sowie am 27. und 28.
Juni 2015 zu sehen.
Der Stich
unter die Haut fordert dieselbe ästhetische Vorstellungskraft und
Sorgfalt, dasselbe handwerkliche Geschick und Wissen über Materialien
und Farbgebrauch wie andere gestalterischen Verfahren. Die
zeitgenössische Tätowier-Szene entwickelt die Sprache der klassischen
Tattoos weiter und erneuert das Medium. Ein Projektion zeigt in der
Ausstellung internationale Arbeiten unterschiedlichster Stilrichtungen
und von herausragender Qualität.
Mit Beteiligung von u.a.: Masahiko Adachi (JP) /
Diane Arbus (USA) / Arkady Bronnikov (RU) / Imogen Cunningham (USA) /
Wim Delvoye (BEL) / Chris Eckert (USA) / Goran Galić & Gian-Reto Gredig
(CH) / Herbert Hoffmann (DE/CH) / Mario Marchisella (CH) / Enrique Marty
(ESP) / The Rich Mingins Collection (GB) / Ralf Mitsch (NL) / Becky
Nunes (NZ) / Jens Uwe Parkitny (DE) / Klaus Pichler (AUT) / Christian
Poveda (FR) / Rodolphe Archibald Reiss (DE/CH) / Fumie Sasabuchi (JP) /
Santiago Sierra (ESP) / Aroon Thaewchatturat (THA) / Timm Ulrichs (DE) /
Christian Warlich (DE) / Marlon Wobst (DE) / Artur Żmijewski (POL)
Arbeiten in der Videoprojektion von: Luke Atkinson (DE) / Curly (GB) /
Mike DeVries (USA) / Thea Duskin (USA) / Lionel Fahy (FR) / Sabine
Gaffron (DE) / Valentin Hirsch (DE) / Saira Hunjan (GB) / Inma (GB) /
Bastien Jean (FR) / Jon John (GB) / Guy LeTatooer (FR) / Filip Leu (CH)
/ Karl Marc (FR) / Volko Merschky & Simone Pfaff (DE) / Leá Nahon (FR) /
Roxx (USA) / Minka Sicklinger (USA) / Liam Sparkes (GB) / Jacqueline
Spoerlé (CH) / Kostek Stekkos (BE) / Amanda Wachob (USA) / Seth Wood
(USA)
Tattoo ist eine Produktion des Gewerbemuseum
Winterthur, Schweiz, kuratiert von Susanna Kumschick, und wird erstmals
in Deutschland gezeigt. Für die Ausstellung im MKG entsteht ein
vielfältiges Rahmenprogramm in Zusammenarbeit mit Hamburger Tätowierer/
innen und Grafikdesigner/innen. Es erscheint ein kostenloses 36-seitiges
Booklet in Deutsch und Englisch.
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