Zukunft Lebensräume

Branchenübergreifender Diskurs von Bau-, Wohnungs- und Gesundheitswirtschaft zum demografischen Wandel

  Meldung: Messe Frankfurt GmbH, den 14.04.2014

Quelle - Katarina Ivanisevic / Messe Frankfurt Exhibiton GmbH, v.l.n.r.: Wolfgang Marzin, Alexander Holzmann, Frau im Altersanzug, Peter Feldmann u. Axel Gedaschko

Unter der Schirmherrschaft von Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann diskutierten Experten aus Bau-, Wohnungs- und Gesundheitswirtschaft zwei Tage lang die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Zukunft unserer Lebensräume. „352 Teilnehmer und 21 Aussteller haben das Konzept der Zukunft Lebensräume begeistert angenommen. In einer älter werdenden Gesellschaft nehmen die Überschneidungen beim Bauen, Wohnen und in der Pflege immer stärker zu. Mit der Zukunft Lebensräume bieten wir den Vertretern der drei Branchen erstmalig eine gemeinsame Plattform. Wir sehen darin ein elementares Zukunftsthema, das wir am Standort Frankfurt fest etablieren wollen“, so Wolfgang Marzin, Vorsitzender der Geschäftsführung der Messe Frankfurt.

 

Beim Kongress standen aktuelle Handlungsfelder und Trends zur Stadt- und Quartiersentwicklung ebenso im Fokus wie neue Wohnkonzepte sowie Beispiele aus der Wohn- und Pflegepraxis. Die Kongressteilnehmer nutzten die Veranstaltungsplattform, um sich über Lösungsansätze zu informieren und neue Forschungsströmungen kennenzulernen. So zeigte ein Praxisbeispiel unter anderem ein Wohnkonzept innerhalb eines Mehrgenerationen-Gebäudes für ein langes selbstbestimmtes Leben. Gemeinsames Ziel der anwesenden Vertreter aus Politik, Unternehmen und Institutionen war es, die Entwicklung generationenübergreifender und -verbindender Quartiere voranzubringen.

 

Die begleitende Fachausstellung zeigte Beispiele und Produkte, die speziell auf die Bedürfnisse von älteren Generationen zugeschnitten sind. Dazu gehörte unter anderem ein mit Sensoren ausgestatteter Bodenbelag, dessen Einsatzbereiche von der Sturzerkennung mit Notrufweiterleitung über das Erkennen von Einbrüchen bis hin zum automatischen Einschalten des Lichts beim morgendlichen Aufstehen reichen. Als besonders lehrreich empfanden Besucher zudem einen Simulationsanzug, der dem Träger den Eindruck vermittelt, im Körper eines Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter zu stecken. Die Wahrnehmung hinsichtlich alltäglicher Handlungen eines Senioren unterscheidet sich signifikant von der Realität. Der Anzug soll helfen, motorische Restriktionen zu simulieren und Verständnis für die Einschränkungen im Alter zu wecken.

 

Die Zukunft Lebensräume wird von namhaften Branchenverbänden und Partnern unterstützt. Dies sind der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW), der Bundesverband freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen (BFW), der Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (VDE), das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA), der Deutsche Pflegeverband (DPV), die Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen (AKH) sowie Holzmann Medien.

 

Ausblick: Am 29. und 30. April 2015 findet die nächste Zukunft Lebensräume gemeinsam mit der führenden Fachveranstaltung zum Thema „Ambient Assisted Living“, dem AAL-Kongress des VDE, in Frankfurt am Main statt.

 

Peter Feldmann, Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main, stellt sich den Fragen zum gesellschaftlichen Wandel und gibt Einblicke in potentielle Lösungen:

 

Herr Oberbürgermeister Feldmann, was bedeutet eine zunehmend ältere Gesellschaft für eine Großstadt wie Frankfurt am Main?

 

Auch in Frankfurt steigt der Anteil der älteren Menschen, allerdings nicht so stark wie in den meisten anderen Regionen. Wir sind eine der wenigen wachsenden Städte mit jährlichem Zuzug. Die Zahl der Kinder steigt pro Jahr um 300. Wir bauen vor allem neue Schulen und Kitas. Darüber dürfen wir selbstverständlich die Bedürfnisse der älteren Menschen nicht vergessen. Soziale und kulturelle Teilhabe für ältere Menschen steht deshalb im Fokus meiner politischen Arbeit. Da ich sowohl ein Jugendhaus als auch ein Altenzentrum geleitet habe, denke ich, dass ich in der Lage bin, beide Gruppen im Blick zu behalten. Ich bin überzeugt, dass ältere Menschen und Familien mit Kindern teilweise ähnliche Bedürfnisse haben, beispielsweise einen barrierefreien ÖPNV, kurze Wege zum Nahversorger oder die Erreichbarkeit von sozialen und kulturellen Angeboten.

 

Berlin und Hamburg sind u.a. inzwischen dabei, weit reichende Programme rund um Senioren und Barrierefreiheit zu entwickeln. Mit welchen Konzepten antworten Sie bereits auf eine notwendige Unterstützung speziell älterer Menschen?

 

Frankfurt tut in diesem Bereich sehr viel, deshalb ist die Liste der Beispiele entsprechend lang. Ich will nur ein paar herausgreifen: Beim barrierefreien Umbau des ÖPNV sind wir schon weit gekommen. Derzeit werden zahlreiche Straßenbahn- und U-Bahnhaltestellen ausgebaut. Der Verkehrsverbund RMV bietet einen Begleitservice für alle mobilitätseingeschränkten Fahrgäste an, dazu gehören auch Hilfen beim Überwinden von Treppen, wenn es keinen Aufzug gibt. Die Broschüre „Barrierefrei unterwegs“ bietet eine Übersicht über die Ausstattung aller Haltestellen im Hinblick auf niveaugleichen Einstieg oder einen Aufzug. Unsere lokale Nahverkehrsgesellschaft arbeitet im Hinblick auf Barrierefreiheit eng mit einem Fahrgastbeirat zusammen, in den u.a. auch der Seniorenbeirat eingebunden ist.

 

Bei einem Projekt, das mich persönlich begeistert, kooperieren die städtische Wohnungsbaugesellschaft ABG, das Rote Kreuz und die Firma Bosch. Ältere Mieterinnen und Mieter der ABG können sich in ihren Wohnungen sogenannte Assistenzsysteme einbauen lassen, die sie in ihrem Alltag unterstützen. Derzeit wird das Projekt durch eine Studie der Fachhochschule begleitet, die die Akzeptanz bei den Nutzern erhebt. Ich habe es selbst ausprobiert: Man steigt z. B. aus dem Bett, tritt auf den Teppich und das Licht geht an, so geht es weiter bis ins Bad. Dazu gehören auch Fallsensoren in der Armbanduhr, die Alarm auslösen, wenn man stürzt. All diese Technik ist absolut benutzerfreundlich, in der Wohnung fast unsichtbar und eine große Hilfe für ältere Menschen und ihre Angehörigen.

 

Was beobachten Sie dazu in der Praxis: Stehen verschiedene Branchen und politische Institutionen zum Thema schon ausreichend in Kontakt?

 

Zentrales Ziel sollte es sein, technische Erkenntnisse und Innovationen mit den Wünschen und Bedürfnissen der älteren Menschen in Einklang zu bekommen. Dabei müssen die verschiedenen Branchen und politische Institutionen selbstverständlich in Kontakt stehen. In Frankfurt gibt es seit 2009 eine ämterübergreifende Arbeitsgruppe, die den „Städtischen Arbeitsplan zur Barrierefreiheit“ entwickelt hat, der für alle Bauprojekte, die den öffentlichen Raum betreffen, gilt. Von zentraler Bedeutung ist jedoch der Dialog mit den älteren Menschen als betroffene Zielgruppe selbst. Wichtig ist, dass man nicht an den älteren Menschen vorbei kommuniziert.

 

Sie sind Schirmherr der Kongressmesse „Zukunft Lebensräume“, die die Disziplinen Bau-, Wohnungs- und Gesundheitswirtschaft verbindet. Wo sehen Sie bei diesen Branchen primär Ansätze für Veränderungen?

 

Die Bau-, Wohnungs- und Gesundheitswirtschaft hat bereits verstanden, dass sie sich auf die Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft einstellen muss, davon bin ich überzeugt. Allerdings denke ich, dass ihre Zugänge zu den älteren Menschen sich verändern sollten. Viele Menschen ab 60 oder ab 70 wollen nicht als „ältere Menschen“ angesprochen werden oder fühlen sich nicht angesprochen. Gefragt sind intelligente Strategien, die bei der Zielgruppe Interesse wecken und nicht auf Ablehnung oder Vorbehalte stoßen.

 

Und wie ist Deutschland bundesweit für neue Lebensräume aufgestellt?

 

Das ist in Deutschland ganz unterschiedlich, so unterschiedlich wie die Herausforderungen sind. Im Hinblick auf den demografischen Wandel sehen wir Kommunen mit einem deutlich steigenden Altersdurchschnitt, die meist auch von Abwanderung betroffen sind sowie einige wenige wachsende Städte wie Frankfurt. Zum Glück ist der demografische Wandel seit über zehn Jahren ein Dauerthema. Man kommt nicht darum herum und muss sich damit beschäftigen. Die zentralen Akteure haben verstanden, dass der demografische Wandel ein Querschnittsthema ist, wenn es eben um die Gestaltung von Lebensräumen geht. Glücklicherweise haben sich einige Pioniere schon sehr früh damit auseinander gesetzt. In Folge dessen gibt es heute viele gute Beispiele, die man adaptieren kann, ohne das Rad ständig neu erfinden zu müssen.

 

Sie haben persönlich schon Erfahrungen als Leiter eines Altenhilfezentrums gesammelt. Inwieweit können Sie als Oberbürgermeister Ihre praktischen Erkenntnisse „von der Basis“ in die Politik einbringen – und welches sind dazu die wichtigsten Punkte?

 

Eine wichtige Erfahrung, die ich sowohl in der Jugend- als auch in der Altenarbeit gemacht habe, ist, dass beide Gruppen zwar einen großen Teil unserer Gesellschaft ausmachen, es ihnen aber oft schwer fällt, ihre Interessen zu vertreten. Im Altenhilfezentrum war ich täglich mit den Bedürfnissen älterer und auch sehr alter Menschen konfrontiert. Es war jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung für mich, den Menschen, die ihre Wohnung wegen ihrer Pflegebedürftigkeit verlassen mussten, das Leben so angenehm wie möglich zu machen und ihnen das Gefühl zu geben, wieder ein neues Zuhause gefunden zu haben. Vor meiner Zeit als Oberbürgermeister war ich sowohl beruflich im sozialen Bereich tätig als auch politisch im Ehrenamt in diesem Feld aktiv. Das habe ich in meinem neuen Amt nicht abgelegt. Die Belange von Kindern und Senioren sind nach wie vor ganz weit oben auf meiner Agenda.

 

Was würden Sie sich privat im Alter wünschen, wie sollte Ihr eigener Lebensraum gestaltet sein?

 

Ich unterscheide mich nicht von anderen Menschen. Selbstverständlich möchte auch ich möglichst lange in den eigenen vier Wänden wohnen bleiben. Es ist für mich gut vorstellbar, von einem Pflegedienst im Alltag unterstützt zu werden. Allerdings kann ich mir auch vorstellen, mich im Alter auf Experimente einzulassen. In Frankfurt gibt es das Projekt „Wohnen für Hilfe“. Studenten wohnen bei älteren Menschen, die ein Zimmer mehr haben als sie brauchen, zahlen nur Umlagen, keine Miete und unterstützen ihren älteren WG-Genossen. Darüber hinaus finde ich auch die Idee einer Senioren-WG reizvoll. Da ich schon als Student in WGs gewohnt habe, ist das durchaus eine Wohnform, die auch im Alter eine Perspektive ist. Persönlich schiebe ich den Gedanken ans Alter nicht von mir weg, sondern akzeptiere, dass ich Mitte 50 bin. Ich glaube, das macht es einfacher als zu denken, man sei forever young.

 

 

Kulturexpress ISSN 1862-1996

vom 14. April 2014