Das
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft hat 406 Seiten. Nach einführendem Vorwort von Stephan Günzel
reihen sich insgesamt 24 Beiträge mit ca. 15 Seiten Umfang je
Beitrag zum Thema Raumwissenschaften auf. Hierbei werden
unterschiedliche Wissensfelder berührt. Ein Kennzeichen des Bandes ist vielleicht, daß rationale Welten behandelt werden, wie aus Natur-,
Gesellschafts- und Kulturwissenschaften, der Architektur,
Psychologie und Neuere Philologien bekannt. Andere Wissenschaften
oder Einsichten werden nicht in den Austausch einbezogen oder nur
ganz am Rande erwähnt, wie synästhetische Erfahrungen oder
ähnliches. Das ist zwar immer noch ein breites Feld der
Untersuchung, doch die Vorstellung von Raum jenseits der
herkömmlichen Wissenschaften ist ebenso erforderlich, um ein
ausgewogenes Bild zu haben. So gesehen, sind
materieller und wahrgenommener Raum identisch, sie
folgen der Logik in den anerkannten Wissenschaften. Das
veranschaulicht in gewisser Weise auch den interdisziplinären
Anspruch der Wissenschaftsreihe aus dem Suhrkamp Verlag.
Der erste Beitrag ist von
Michaela Ott,
Kunsthistorikerin, die sich auf den Bereich der Ästhetik bezieht.
Sie nimmt zunächst wie
Herausgeber Stephan Günzel Bezug auf Kant und nimmt dessen
apriorischen Fähigkeiten auf. Kommt dann schnell nach Einführung der
Psychologie zu aktuellen Beispielen aus der Kunst der Gegenwart, um
im zweiten Kapitel auf Geister wie Lessing, Goethe, Schelling, Hegel
und Jakob Burckhardt zu schließen. Doch erst das 20. Jahrhundert
kennt eine bis dahin unbekannte Vielfalt der ästhetischen
Raumreflexion. Die modernen
Avantgarden erscheinen bei ihr als aufeinander folgende Strategien
der Raumvervielfältigung, die sich auch noch multiplizieren. Sie
setzt damit eindeutig auf ein quantitatives Konzept der Raumbildung.
Selbstverständliche Ergänzung stadträumlicher Planung ist die Kunst
am Bau, die im Crossover immer wieder in ein Spannungsfeld zur
Architektur gerät.
Autorin Franziska Lang
beschäftigt sich mit Landschaftsraum, woraus die Siedlungsarchäologie
schließt. Sie unterscheidet zwischen zentraler Stadt und peripher
gelegenem Dorf und zieht daraus Schlüsse auf die Konstituierung von
Raum. Von wesentlicher Bedeutung sind bei ihr die Schichtenfolgen
auch Stratifikation, die sukzessive Überlagerung geologischer
Schichten in zeitlicher Abfolge bedeuten - auf Seite
37 ist ein
Schreibfehler, statt kritisch steht dort kritsch. Franziska Lang
will den Neubegriff postmoderne Archäologie aufgreifen, die durch Einbeziehung der
Geistes- und Sozialwissenschaften eine unmittelbare Formung des
Menschen durch den ihn umgebenden Raum ermöglicht. Als Beispiel
werden die Wirkung von Monumenten in der Landschaft, Stadträume und
anderes mehr erwähnt.
Der Architekturtheoretiker Eduard Führ
unterscheidet in seiner Untersuchung vier knapp gefasste Kategorien
beginnend mit dem funktionalistischen Raum, der sich aus dem
Gegensatz Inhalt und Funktion erschließt. Der fließende Raum ist nur
eine Komponente daraus. Der gotische Raum, der sich durch
Schichtungen in die Tiefe verjüngt ist ein anderer. In einer zweiten
Kategorie erscheint der strukturalistische Raum, der in der
Architektur mit der Entwicklung in der Nachkriegszeit entsteht und
sich als Nachfolger der Klassischen Moderne sieht. Eine Folge bei
der Aufzeichnung des strukturalistischen Raumes ist der völlige
Verzicht auf Bauten, was als erster Aufbruch in virtuelle Welten der
Gegenwart zu verstehen ist. Eine zweite Richtung bezieht sich auf
den CIAM Kongress aus dem Jahre 1953 mit Blick auf den Menschen und
das Soziale einschließlich seiner ethnologischen Komponenten und
benennt die islamische Stadt. Eine weitere Kategorie bildet der
öffentliche Raum, der seit dem 19. Jahrhundert vor allem auf
Stadtplanung gerichtet ist. Während der phänomenologische Raum
auf wenige Autoren beschränkt bleibt. Die Phänomenologie sieht der
Autor bei Heidegger und den beim Werkbund gehaltenen Vortrag "Bauen,
Wohnen, Denken" aus dem Jahre 1951, wonach Bauwerken die Aufgabe
zukommt die Welt zu verändern. Durch ihre Materialisierung wird die neue Welt sichtbar. Hier ist der Architekt
als Demiurg gemeint, eine Rolle die ihm früher häufiger
gegeben wurde. Während Christian Norberg-Schulz mit dem genus loci
argumentiert und phänomenologischen Raum und dessen Präsenz vielmehr
in der ureigensten Identität des Ortes sucht.
Das Thema Sprache und Raum untersucht in
der Linguistik die Verbalisierung räumlicher Wahrnehmungen. Die
Auseinandersetzung mit diesen Räumen ist theoretisch in der
Erinnerung an konkrete Räume, mit deren sprachlicher
Umschreibung die Sprachkognition eingesetzt hat. Karin Wenz räumt mit Chomsky
(1965) die kognitive Wende ein, die sich seit den 1980er Jahren
besonders dem Themenkreis Sprache und Raum zuwendet. Es geht
zunächst um eine semantische Beschreibung der Raumausdrücke.
Sprechen über Raum setzt dessen Kognition voraus, das heißt dieser
Raum muß erkannt sein, bevor darüber gesprochen werden kann. Die
Forschung hat sich mittlerweile auf das gesamte Gebiet der
sprachbegleitenden semiotischen Systeme ausgedehnt wie zum Beispiel
Gestik.
Interessant ist der Aspekt, daß die Umsetzung
einer räumlichen Konfiguration in Sprache eine Auflösung der
mehrdimensionalen Raumwahrnehmung in eine lineare Struktur
voraussetzt. Psycholinguistische Forschung untersucht, wie es
Sprechern gelingt, eine komplexe dreidimensionale Raumwahrnehmung
auf die Linearität der Sprache zu übertragen. Der Begriff der
kognitiven Landkarte taucht auf. Die Mnemotechnik nutzt Brücken, um
Schlüsse zu ziehen. Schließlich zielt die Autorin auf die
Konstruktion von Wirklichkeit in Wahrnehmung und Sprache.
Wichtiges Hilfsmittel ist die Raumsemiotik.
Auch Sylvia Sasse befaßt sich mit
Sprache und Raum vorwiegend im literarischen Sinne. Sie stellt den
französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette voran. Genette
stellt die Negativbestimmung des Räumlichen in der Literatur nur
heraus, um sie zu überwinden. Bezugspunkt ist der Aufsatz über
Laokoon, indem sich der Verfasser Gotthold Ephraim Lessing fragt, inwieweit Kunst und Literatur in
der Lage sind, eine wirklichkeitsgetreue Darstellung des Raums zu
leisten. Ein Grundlagenwerk wie Sasse meint. Abgesehen davon trifft die Autorin auf de Sausure, Derrida
und Sigmund Freud, um Verräumlichung von Sprache durch Schrift zu
veranschaulichen. Raum betrifft auch die Rhetorik. Sie benennt Alfred
Döblins multiperspektivische Erzählweise in Berlin Alexanderplatz
oder den James Joyce Roman Ulysses. Der Beginn des 20. Jahrhunderts
ist durch ein neues Raumwissen geprägt. Sie nimmt Bezug auf Cassirer
und Michail Bachtin, der sagt, daß Lessing die Raumzeitlichkeit in der
Literatur entdeckt habe. Bachtin entwickelt eine Korrelation von
Raum und Zeit. Sie schiebt Kant und Neukantianer hinterher. Sasse kennt auch
den russischen Kultursemiotiker Jurij Lotman der 1960er und 1970er
Jahre und dessen Untersuchungen zur Semiotik. Michel de Certaus
Studie "Die Kunst des Handelns" vergleicht Bewegungen im Raum
mit sprachlichen Äußerungen. Der Amerikaner J. Hillis Miller sieht im Sprechakt
die Kennzeichnung dessen, was er Topographie nennt. Zum Abschluß
beschreibt sie den Neubegriff der Geopoetik des Ukrainers Andruchovycs.
Bei Jan C. Schmidt ist Physik die
Raumwissenschaft schlechthin, denn ohne Raumbezug ist Physik nicht
möglich. Zweite Option ist Raum und Zeit. Vor allem die
Entwicklungen der Relativitätstheorie prägten das 20. Jahrhundert
auch in Bezug auf die Materie. Wieviel Dimensionen finden sich: 4,
10 oder mehr? Ist Raum immanent oder unterliegt dieser der Evolution?
Viele große und
grundsätzliche Fragen werden vom Autor gestellt. Eine abschließende Klärung ist
nicht erreicht worden.
Die Autoren
Michaela Ott - Ästhetik/
Kunstgeschichte
Franziska Lang - Archäologie
Eduard Führ - Architektur/
Städtebau
Stephan Günzel - Bildtheorie
Michael Weingarten - Biologie/
Ökologie
Christian Reutlinger -
Erziehungswissenschaft
Dieter Haller - Ethnologie/
Sozialanthropologie
Karl Sierek - Filmwissenschaft
Bruno Werlen - Geographie/
Sozialgeographie
Marcus Sandl -
Geschichtswissenschaft
Gyula Pápay - Kartographie
Hartmut Böhme - Kulturwissenschaft
Karin Wenz - Linguistik/ Semiotik
Sylvia Sasse -
Literaturwissenschaft
Markus Banagel - Mathematik/
Topologie
Nina Noeske - Musikwissenschaft
Dirk Quadflieg - Philosophie
Jan C. Schmidt - Physik
Maria de Mar, Castro Varela, Nikita Dhawan und
Shalini Randeria - Postkoloniale Theorie
Judith Glück und Oliver Vitouch -
Psychologie
Horst Dreier und Fabian Wittreck -
Rechtswissenschaft
Markus Schroer - Soziologie
Thea Brejzek, Gesa Müller von der Haegen und
Laurence Wallen - Szenografie
Elisabeth Jooß - Theologie
Raumwissenschaften
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, stw
1891
Herausgegeben von Stephan Günzel
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
1. Auflage 2009 (Dezember 2008)
406 Seiten, Taschenbuch
Größe 17,6 x 10,8 x 2 cm
Gewicht 250g
ISBN-10: 3518294911
ISBN-13: 978-3518294918
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