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Auf dem Foto Prof. Dr. Joachim Wuermeling,
Foto (c) Bert Bostelmann |
In seiner Rede beim UBS Investment Kompass am 19.
November 2018 ging Prof. Dr. Joachim Wuermeling, Mitglied des
Vorstands der Deutschen Bundesbank bei diesem Thema auf drei
Punkte ein: Erstens befasste er sich mit dem Brexit aus
Kundensicht. Zweitens frage er, was Regulatoren und Aufsicht tun
können, um unerwünschte Wirkungen des Brexit abzumildern. Selbst
wenn es gelingt, einen harten Brexit zu verhindern, der Brexit
wird Europa verändern. Auf diese neue Post-Brexit-Welt müssen
sich die Finanzmarktakteure einstellen und ihre Strategien
entsprechend anpassen. Deshalb stellt sich drittens die Frage:
Wie machen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten unabhängiger vom
Finanzzentrum in London? Wie kann das gelingen? Wuermelings
Vorschlag hierzu wäre: die Oktopus-Strategie wählen, doch dazu
später mehr.
Der Brexit aus Kundensicht
Zunächst
heißt es nachschauen, aus welchem Stand die Verhandlungen
stehen. Seit einiger Zeit rückt der geordnete Brexit ein Stück
näher. An diesem Tag haben sich die Unterhändler der beiden
Seiten auf Grundzüge eines Austrittsabkommens geeinigt. Dieses
Abkommen würde eine Übergangsphase für die Zeit von dem 29. März
2019 bis zum 31. Dezember 2020 festlegen. Diese Frist kann noch
verlängert werden. Während dieser würde im Vereinigten
Königreich EU-Recht unverändert gelten und die Insel bliebe
solange auch Teil des Binnenmarktes. Für die Inanspruchnahme von
Finanzdienstleistungen in London gäbe es bis dahin für Kunden
keinerlei Beschränkungen. Selbst das Inkrafttreten des
Austrittsabkommens führt aber noch längst nicht zu einem “soft
Brexit“ – es verschiebt den „harten Brexit“ lediglich auf den
31. Dezember 2020. Was aber nach dem 29. März 2019 mit Abkommen
oder nach dem 31. Dezember 2020 ohne Abkommen passiert ist noch
unklar.
Denn das
müsste im Rahmen eines noch auszuhandelnden Handelsabkommens
geregelt werden. Dabei sind sich die EU und das UK mittlerweile
einig, dass es eine Fortsetzung des Binnenmarktes nicht geben
wird. Während Bankkunden in einem Binnenmarkt alle Produkte von
allen Anbietern in allen Ländern uneingeschränkt erwerben
können, ist dies mit Drittstaaten nicht der Fall. Banken können
von dort aus keine Finanzdienstleistungen mehr anbieten. Dies
wäre schlicht illegales Bankgeschäft. Kunden haben entsprechend
grundsätzlich auch keine Möglichkeit mehr, von dort aus
Leistungen in Anspruch zu nehmen. Denn es gilt nun für jede
UK-Bank – wie für jede dritte Bank auf der Welt – der Grundsatz
der „home rule“, d.h. jeder Akteur in der EU muss alle hier
geltenden Regeln einhalten. (Im Binnenmarkt reichte es, wenn man
die – europäisch harmonisierten – Regeln im Inland einhielt.)
Eine
gewisse Linderung könnte die Anerkennung bestimmter
Aufsichtsstandards für bestimmte Produkte und Dienstleister als
„äquivalent“ bieten. Aber solche Anerkennungen sind nur
punktuell möglich und können jederzeit einseitig entzogen
werden. Geschäftsmodelle können darauf nicht aufgebaut werden.
Und entschieden ist dazu nichts. Vereinbarungen dazu enthält der
Austrittsvertrag nicht, nur Absichtserklärungen. Diese sind dem
späteren Handelsabkommen vorbehalten. Für Kunden, die vor dem
Austritt Verträge abgeschlossen haben, die nach dem Austritt
weitergelten, ergeben sich die größten Probleme. Denn es könnte
sein, dass diese Verträge nun nicht mehr legal sind und
eigentlich abgewickelt werden müssten. Lösungen dafür sind
schwierig, aber möglich. Allerdings setzen sie ein Handeln des
Gesetzgebers oder der Aufseher voraus.
Was tun Regulatoren und Aufsicht?
Wegen
des Ausscheidens aus dem Binnenmarkt wurden im Vereinigten
Königreich ansässige Banken seit dem Brexit-Referendum dazu
aufgefordert, in der EU neue Banklizenzen zu beantragen oder
bestehende zu erweitern, wenn sie hier weiter Geschäfte
betreiben wollen. Dabei müssen aber funktionsfähige Einheiten
geschaffen werden. Es dürfen nicht nur Briefkastenbanken
entstehen. Diese Erwartung ist der Kern der sogenannten „no
empty shells“-Doktrin – diese hat der SSM in seinen Supervisory
Policy Stances niedergelegt.
Drei Aspekte erscheinen wichtig:
Da sind
zunächst die Prinzipien für Zulassung sowie Governance,
Risikomanagement und Outsourcing. Kern der auf mehreren hundert
Seiten aufgeführten Anforderungen ist: Es darf keine leeren
Hüllen geben. Banken im Euroraum müssen in der Lage sein, alle
wesentlichen Risiken unabhängig und auf lokaler Ebene zu
kontrollieren. Dafür benötigen sie Kontrolle über ihre Bücher
und Positionen sowie lokal unabhängige Steuerungs- und
Kontrollfunktionen, die an den lokalen Vorstand berichten – vor
allem in den Bereichen Risikomanagement, Compliance und interne
Revision.
Der
zweite viel diskutierte Bereich betrifft die Buchungsmodelle.
Hier müssen hiesige Institute sicherstellen, dass sie in der
Lage sind, eurozentrierte Produkte und Positionen auch dann
managen zu können, wenn in Drittstaaten ansässige Einheiten der
Gruppe nicht mehr zur Verfügung stehen sollten. Das heißt
konkret, dass zum Beispiel Marktrisiken aus diesen Produkten
nicht mehr vollständig im Rahmen von gruppeninternen
back-to-back Hedges nach London übertragen werden dürfen.
Vielmehr müssen hierzulande hinreichend viele Handels- und
Risikomanagementkapazitäten vorgehalten werden, um diese
Positionen autark verwalten zu können. Diese strenge Haltung ist
vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs von Lehman Brothers zu
sehen. Damals führte der Zusammenbruch der US-Mutter auch zum
Zusammenbruch der europäischen Einheiten des Instituts – und
eine solche Situation gilt es nach Möglichkeit künftig zu
vermeiden.
Außerdem
ist es wichtig, die Effektivität der Aufsicht im SSM
sicherzustellen. Daher gilt der Grundsatz, dass hiesiges
Geschäft von hier aus zu steuern, zu verantworten und somit auch
zu beaufsichtigen ist. Und vor diesem Hintergrund kann es – das
ist der dritte Aspekt der „no empty shells“-Doktrin –
langfristig auch kein umfassendes „back-branching“ geben, also
die Erbringung von Dienstleistungen auf Basis des Finanzpasses
einer im SSM lizensierten Bank durch deren in einem Drittstaat
ansässigen Zweigstelle. Mit diesen und den weiteren Policy
Stances gibt es einen klaren, transparenten Erwartungsrahmen im
SSM. Erfüllen die Institute diese Erwartung?
Hier
gibt es ermutigende Fortschritte: Die Mehrzahl der
Lizenzverfahren befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium
bzw. ist bereits abgeschlossen.
Gleichwohl werden noch nicht alle aufsichtlichen Erwartungen des
SSM von allen Instituten vollständig erfüllt. Und leider gibt es
auch immer noch Institute, bei denen die Vorbereitungen weniger
weit fortgeschritten sind.
Für über
den Brexit hinausreichende, bereits geschlossene Verträge wurden
Banken aufgefordert, ihre Verträge auf lizensierte Einheiten in
der EU27 zu übertragen. Der ein oder andere von Ihnen ist damit
womöglich schon konfrontiert worden. Der verbleibende Zeitplan
ist eng, die Zahl der betroffenen Geschäfte ist hoch und die
Komplexität der Fragen, die sich in vielen Themenbereichen noch
immer stellen, immens. Deshalb kann es gleichzeitig nötig
werden, dass auch der Gesetzgeber Maßnahmen ergreift, um die
Institute bei der Lösung dieser Herausforderungen zu
unterstützen. Insofern ist es begrüßenswert, dass die
Bundesregierung bereits erste Gesetze in den Bundestag
eingebracht und weitere angekündigt hat.
Seit dem
13. November wurde bekannt, dass erste Notfallmaßnahmen
verabschiedet wurden. Erfreulich ist auch die Ankündigung des
Vize-Präsidenten der Europäischen Kommission, Valdis Dombrovskis,
das Clearing bei im Vereinigten Königreich ansässigen
Clearing-Häusern im Falle eines ungeordneten Brexit für eine
kurze Übergangsphase zuzulassen. Wichtig dabei sind abei aber
zwei Bedingungen: Erstens, dass sich das Vereinigte Königreich
eng an die regulatorischen und aufsichtlichen Standards der EU
hält. Und zweitens, dass es sich hierbei um zeitlich eng
begrenzte Übergangsmaßnahmen handelt. Es geht hier
ausschließlich darum, Risiken für die Finanzstabilität temporär
abzufedern.
Zur Zukunft des kontinentalen Finanzmarkts
Einen
internationalen Finanzplatz hatte die EU bislang mit London. Das
ist nach dem Brexit nicht mehr der Fall. Wenn keine Reaktionen
kommen, werden entscheidende Finanzströme der EU künftig über
einen Finanzplatz geleitet, der nicht unter die Jurisdiktion der
EU fällt und wo auch keine Aufsichtsbefugnisse vorhanden sind.
Das wäre sehr bedenklich. Wir müssen auch künftig in der Lage
sein, unsere Volkswirtschaft aus eigener Kraft zu finanzieren,
wie alle anderen Industrienationen auch. Darin liegen auch neue
Möglichkeiten.
Wuermeling hält nicht viel davon, den Brexit als Chance zu sehen
– denn wenn es solche Chancen gibt, dann hätte man diese
deutlich besser ohne EU-Austritt realisieren können und sollen.
Aber die britische Entscheidung ist zu akzeptieren, und so muss
die EU auch ohne das Vereinigte Königreich in die Zukunft
schauen. Deshalb lautet Wuermelings dritte Botschaft, dass die
EU und ihre Mitgliedstaaten die Abhängigkeit vom Finanzzentrum
in London aktiv abbauen müssen. Dabei geht es um nicht weniger
als die Finanzierung der europäischen Wirtschaft, besonders in
Zeiten, in denen die globale Wirtschafts- und Finanzordnung
zunehmend instabil wird.
Nun wird
dieses „Finanz-Herz“ der EU entnommen. Bedeutet dies den
unausweichlichen Tod für das europäische Finanzsystem im
globalen Wettbewerb? Bedeutet es, dass europäische Firmen
künftig auf Finanzplätze außerhalb der EU zurückgreifen müssen?
"Oktopus" Sinnbild für Dezentralisierung
Wie der
Oktopus hat auch die EU mehrere Herzen – etwa die etablierten
Handelsplätze wie zum Beispiel Paris, Amsterdam, Dublin und
natürlich Frankfurt. Während also der Oktopus dank seiner drei
Herzen in der Tierwelt nahezu einzigartig ist, macht eine
ähnliche Vielfalt auch die EU zu einem besonderen, einzigartigen
Wesen. Mehr noch: Ähnlich wie beim Oktopus, ist auch in der EU
das Gehirn nicht nur an einem zentralen Ort angesiedelt, sondern
es ist bis in die äußersten Extremitäten verästelt. Der Oktopus
verfügt über ein Netzwerk von Neuronen, das sich durch den
ganzen Körper zieht und das wie ein körpereigenes Internet
funktioniert. Von seinen insgesamt 500 Millionen Nervenzellen
sind zwei Drittel verästelt bis in die äußersten Extremitäten.
Jeder Arm hat eine eigene Sensorik und Steuerung; und allein
jeder Saugnapf hat 10.000 Neuronen.
In der
EU ist das ähnlich: Auch hier sind die wirtschaftlichen
Kapazitäten verästelt bis in die äußersten Extremitäten. Jeder
Mitgliedstaat und jeder Finanzplatz hat eine eigene Sensorik und
Steuerung – damit ist die EU ähnlich dezentral angelegt.
Wuermeling ist fest davon überzeugt: Auf diese einzigartige
Struktur der EU sollte der Marktkern aufgebaut werden.
Aber
anders als beim Oktopus – der sich mit seinen acht Füßen
dermaßen geschmeidig fortbewegen kann, dass kein noch so
leistungsfähiger Computer einen entsprechenden Algorithmus mit
ähnlichen Ergebnissen liefern könnte – ist die EU noch weit
davon entfernt, ihr neuronales Netzwerk-Potenzial auszuschöpfen.
Und deshalb stellt sich die Frage, wie die EU27 den Ehrgeiz
haben sollten, einen global wettbewerbsfähigen Finanzplatz zu
entwickeln, der mehr ist als die Summe seiner Teile hier in
Frankfurt, in Paris, Amsterdam oder Dublin.
Ein solches Konzept
könnte auf drei Säulen ruhen:
Die
erste Säule ist das Netzwerk. Bisher ist das Potenzial
europäischer Finanzdienstleistungen auf mehrere Standorte
verteilt. So entsteht keine kumulative Wirkung. Damit ein
vollwertiges „finanzielles Ökosystem“ wirklich gedeihen kann,
müssen jedoch Angebot und Nachfrage nach Finanzdienstleitungen
vor Ort ausreichend vorhanden sein. Derzeit kann das kein
europäisches Finanzzentrum bieten. Jedoch könnten die
kontinentalen Finanzzentren ein aggregiertes Potenzial
ausschöpfen, wenn sie ein Netzwerk bilden, in dem jedes
Finanzprodukt zu jeder Zeit in jeder Menge gekauft und verkauft
werden kann – wie es eben ein global wettbewerbsfähiger
Finanzplatz können muss.
Die
Digitalisierung bildet die zweite Säule. Die kontinentalen
Finanzzentren brauchen eine starke digitale Marktinfrastruktur,
die alle neuen digitalen Möglichkeiten vollumfänglich ausschöpft
– die Distributed Ledger Technology (DLT) ist davon nur eine.
Nur dann können sie die Fragmentierung wirksam überwinden und
Agglomerationseffekte von örtlicher Nähe nachbilden. Hier ist
auch das Eurosystem gefordert, das ja mit dem TARGET-System
bereits eine elementare Infrastruktur für den Zahlungsverkehr
zur Verfügung stellt.
Diese
ersten beiden Säulen schaffen ein digitales Netzwerk
europäischer Finanzzentren. Damit dieses Netzwerk sein Potenzial
aber voll entfalten kann, ist eine marktgetriebene
Spezialisierung als dritte Säule notwendig. Marktgetriebene
Spezialisierung kann helfen, Skaleneffekte zu erzielen,
Innovationspotenzial zu steigern und Exzellenz zu erreichen. In
einer „Coopetition“ – eine Wortschöpfung aus den englischen
Begriffen für Kooperation und Wettbewerb – könnten europäische
Finanzzentren kooperieren, konkurrieren und gleichzeitig ihre
eigenen Kernkompetenzen entwickeln. Aber das ist eine
Zukunftsvision. Es ist jedenfalls ein Zukunftsbild, das auch
sehr in unserem ureigenen Interesse als Zentralbank liegt. Denn
eine starke Währung, Preis- und Finanzstabilität können wir umso
besser fördern, je mehr die relevanten Finanzströme dort
verlaufen, wo unser Regime gilt.
Der
Brexit kommt, der Brite geht. Was bleibt, ist hoffentlich ein
partnerschaftliches und freundschaftliches Verhältnis mit dem
Vereinigten Königreich. Was entsteht, ist vielleicht ein neues,
globales und vernetztes Finanzzentrum in der EU27; mit Herzen,
die in Paris, Madrid, Frankfurt und an weiteren Orten schlagen;
und einem digitalen Hirn, das bis in den letzten Winkel der EU
verästelt ist.
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