Am 16. Juni an ihrem 12. Geburtstag hat
die elfjährige Paloma Josse beschlossen, wird sie sich umbringen. Für
die Tochter aus reichem Hause steht fest, die Welt der Erwachsenen ist
verlogen, kleingeistig und oberflächlich. Warum sollte sie es ihren
Eltern und ihrer älteren Schwester nachmachen wollen und wie ein Fisch
in einem Goldfischglas leben, der sich ständig den Kopf an der Scheibe
stößt? Ihr Selbstmord ist beschlossene Sache. Doch bis es soweit ist,
filmt die ebenso intelligente wie eigensinnige Paloma die Menschen in
ihrer Umgebung mit einer alten Kamera, die sie von ihrem Vater geerbt
hat. Dass sie alle nervt und gegen sich aufbringt, macht ihr nichts aus.
Hauptsache, der Blick durch den Sucher erlaubt ihr noch ein paar
grundlegende Erkenntnisse über die Welt, bevor sie ihr endgültig
Lebewohl sagt.
Paloma nimmt ihre Mutter ins Visier – eine
neurotische Hausfrau, die seit zehn Jahren zur Therapie geht, ebenso
lange Psychopharmaka schluckt und sich intensiver mit ihren Grünpflanzen
als mit ihren Töchtern beschäftigt. Sie filmt ihre zickige Schwester
Colombe, verlobt, Studentin und von dem Ehrgeiz zerfressen, in allem
besser zu sein als ihr brillanter Vater, der es bis zum Minister
gebracht hat. Und sie filmt die Ereignisse in ihrem Wohnhaus, einem
Stadtpalais in einem feinen Pariser Bezirk. Gerade ist der Bewohner aus
dem vierten Stockwerk überraschend gestorben. Das frei gewordene riesige
Appartement erwirbt ein eleganter älterer Herr aus Japan, der es
aufwendig im Stil seiner Heimat umbauen lässt.
Einen Menschen hat die kleine
Hobby-Regisseurin Paloma bislang eher missachtet, und das ist Renée
Michel, die Concierge. Eine unansehnliche, bärbeißige Hausmeisterin
Mitte 50, die seit einem Vierteljahrhundert zum Inventar des Hauses
gehört und gewissermaßen unsichtbar geworden ist. Was keiner weiß und
selbst Paloma, die eine gute Menschenkenntnis besitzt, bestenfalls
vermutet: Renée ist gar nicht so einfältig, wie sie tut, sondern
ungemein belesen und vielfältig interessiert. Ihre Concierge-Loge im
Erdgeschoss ist der perfekte Platz, um unbehelligt das menschliche
Treiben zu beobachten und sich Gedanken über die Welt im Allgemeinen und
die wohlhabenden Bewohner über ihr im Besonderen zu machen.
Zunächst
deutet nichts darauf hin, doch durch den Einzug von Kakuro Ozu verändert
sich so manches im Haus. Als er die Concierge kennen lernt, genügt
beiden ein kurzer Wortwechsel, um zu erkennen, dass sie sich für die
großen Werke der Weltliteratur interessieren und Katzenbesitzer sind,
die ihren Vierbeinern literarisch vorbelastete Namen gegeben haben.
Prompt ist ihre Neugierde aufeinander geweckt, der Grundstein für eine
über die nächsten Wochen und Monate zart wachsende Freundschaft gelegt.
Paloma wiederum begegnet ihrem neuen Nachbarn erstmals im
altersschwachen Fahrstuhl, der wie so häufig stecken bleibt und ihnen so
die Gelegenheit gibt, ebenfalls nähere Bekanntschaft zu schließen.
Kakuro schenkt Renée eine zweibändige,
wertvolle alte Ausgabe von „Anna Karenina“. Ebenso überrascht wie
verwundert, will sie das Präsent spontan ablehnen. Schließlich dankt sie
ihm jedoch schriftlich, denn insgeheim freut sie sich sehr darüber.
Kakuro setzt noch einen drauf – und lädt Renée zum Abendessen in seine
Wohnung ein. Renée, die seit längerem Witwe ist und wenig Kontakt zur
Außenwelt pflegt, weiß nicht, was sie anziehen soll. Ihre Freundin
Manuela, die früher für Palomas Mutter putzte und inzwischen als Kakuros
Haushälterin arbeitet, weiß Rat und besorgt Renée leihweise ein schickes
Kleid. Außerdem lässt sich Renée von ihr breitschlagen und geht zum
ersten Mal seit vielen Jahren wieder zum Friseur. Als sie ihr
Spiegelbild mit dem neuen, vorteilhaften Haarschnitt erblickt, murmelt
sie nur: „Erstaunlich!“
Paloma hat eine Wand in ihrem Zimmer zu
einer Art riesigem Countdown-Kalender umfunktioniert, dessen 165
Kästchen sie mit täglich neuen Motiven füllt. Dazu regen sie manchmal
auch aktuelle Ereignisse an. Als sie Renée einmal weinen sieht, zeichnet
sie
Tränen in das entsprechende Kästchen. Paloma geht schon bald bei Kakuro
ein und aus, spielt Go mit ihm und lernt seine kleine Enkelin kennen.
Auch die Beziehung zwischen Renée und Kakuro wird im Lauf der Zeit immer
vertrauter – auch wenn die Concierge strikt darauf achtet, dass niemand
im Haus etwas davon mitbekommt, wenn sie sich zum DVD-Nachmittag oder
zum Nudelessen in Kakuros Wohnung begibt.
Der Tag X, von dem außer Paloma niemand
auch nur das Geringste ahnt, rückt immer näher. Um ganz sicher zu gehen,
testet Paloma die Wirkung der Pillen, die sie ihrer Mutter seit Wochen
heimlich entwendet, am Goldfisch ihrer Schwester. Als der arme Hubert
reglos an die Wasseroberfläche treibt, spült Paloma den Fisch einfach im
Klo herunter.
Aus Renée, der zuvor so abweisend
wirkenden grauen Maus, ist inzwischen eine Frau geworden, die ihren
Mitmenschen weniger misstrauisch begegnet. Sie lässt sich sogar von
Paloma filmen und erzählt vor laufender Kamera von sich und ihrem Leben.
Beim Genuss von Bitterschokolade und Tee verrät Paloma ihrer neuen
Freundin, wie sehr sie Renée um ihren Beruf und die verschwiegene
Concierge-Loge beneidet. Denn in Palomas Augen hat sie damit das
perfekte Versteck gefunden, um die Welt auszublenden, wenn sie ihr auf
die Nerven geht.
Leider gelingt es Renée noch nicht in
jedem Moment, über ihren Schatten zu springen. Als Kakuro sie zum
Abendessen in ein Restaurant einlädt, um mit ihr seinen Geburtstag zu
feiern, brüskiert sie ihn mit einer barschen Ablehnung. Kakuro ist
verletzt und ratlos – und nimmt ihren Korb schweigend hin. Zufällig wird
Paloma Zeugin von Renées Auftritt und macht ihr durch gutes Zureden
klar, dass es die Angst vor der eigenen Courage ist, die sie lähmt. Zu
ihrer eigenen Überraschung ändert Renée ihre Meinung und nimmt Kakuros
Einladung doch noch an. Und es wird für beide ein heiteres Rendezvous.
Arm in Arm schlendern sie anschließend durch die Frühsommernacht nach
Hause. Renée spürt, wie lebenswert schön das Leben sein kann. Doch was
wird aus Paloma? Ihr 12. Geburtstag rückt näher.
Interview mit Mona Achache
Wie würden Sie die Geschichte des Films
in einem Satz zusammenfassen?
Sie erzählt davon, wie sich drei Menschen
unverhofft in einem feinen Pariser Wohnhaus begegnen: eine schweigsame,
barsche, einsame Concierge namens Renée, das intelligente,
selbstmordgefährdete kleine Mädchen Paloma und Kakuro Ozu, ein
wohlhabender, geheimnisvoller Herr aus Japan.
Wann und wie sind Sie auf Muriel
Barberys Buch aufmerksam geworden?
Kurz nach seinem Erscheinen. Nicht lange
davor hatte ich der Produzentin Anne-Dominique Toussaint ein Drehbuch
von mir zu lesen gegeben. Sie fand es interessant, aber auch ein
bisschen freudlos. Sie meinte, wenn ich mal eine etwas amüsantere
Geschichte hätte, würde sie gern mit mir zusammenarbeiten. Grundsätzlich
halte ich Romanverfilmungen für eine gute Sache. Deshalb ging ich in
eine große Pariser Buchhandlung, um mich mithilfe der Klappentexte auf
den neuesten Stand zu bringen. Ich wollte mir „Die Eleganz des Igels“
kaufen, ließ es aber bleiben, weil die Schlangen an den Kassen zu lang
waren. Am selben Abend erzählte mir eine Freundin von einem Buch, das
sie gerade zu Ende gelesen hatte: „Die Eleganz des Igels“!
Was hat Sie an dieser Geschichte
berührt?
Dass sie beschreibt, wie absurd Vorurteile
sind, und welcher Zauber unwahrscheinlichen Begegnungen innewohnt. Das
Wohnhaus erinnerte mich an das Haus, in dem ich aufgewachsen bin –
allerdings war es viel vornehmer. Ich fand es als Kind ungeheuer
faszinierend, was für unterschiedliche Leute da rein zufällig über- und
miteinander lebten. Aber natürlich waren es Paloma und Renée, die mich
am meisten interessierten. Dass diese mürrische Frau sich zu wandeln
beginnt, weil sie einen anderen Menschen kennen lernt. Und dass dieses
kleine, verschlossene Mädchen, das so düster und selbstsicher ist, durch
die Begegnung mit Renée und Kakuro begreift, dass das Leben viel
komplexer und unvorhersehbarer ist, als es dachte. Mit dem kleinen
Mädchen und der Concierge habe ich mich restlos identifiziert. Dass sich
Renée und Monsieur Ozu überhaupt näher kennenlernen, hat etwas von einem
modernen Märchen.
Können Sie das genauer erklären?
Ich stellte mir zum Beispiel von Anfang an
vor, dass die Geschichte in einem Jugendstil-Gebäude spielt. Diese
Architektur hat etwas Filmreifes, Zeitloses, Poetisches – und ist
gleichzeitig typisch großbürgerlich und sehr pariserisch. Ich wollte aus
dem Gebäude eine eigenständige Figur machen, die sich perfekt in den
Film einfügt.
Ich wollte keines dieser typischen
Haussmann-Gebäude aus dem 19. Jahrhundert zeigen, denn damit rutscht man
schnell ins Bourgeoisie-Klischee ab. Mir war überhaupt nicht nach diesem
protzigen Luxus, nach diesem Überfluss an Goldgepränge und Marmor. Mir
schwebte eine Atmosphäre vor, die geheimnisvoller, düsterer,
erdrückender und befremdlicher ist. Die ganze Handlung ist hermetisch
auf dieses Wohnhaus beschränkt, es ist, als lebten die Figuren in einem
riesigen Glasbehälter. Zwar ist der Kontext, in dem die Geschichte
spielt, realistisch. Andererseits wollte ich diesen „Igel“ in eine
träumerische, poetische und phantasievolle Stimmung tauchen.urtstag und
damit bis zu ihrem Selbstmord – entstand erst relativ spät. Jeden Tag
füllt Paloma ein kleines Kästchen mit einer Zeichnung aus. Zuletzt
ergibt das Ganze ein ausgefeiltes Gemälde, aus dem man all ihre Gedanken
ablesen kann. Ihre Todessehnsucht sollte glaubwürdig (und zudem visuell)
sein, dabei aber nicht zu morbid oder plakativ wirken. Für mich ist
Renées Tod am Ende nur deshalb erträglich, weil der Zuschauer begreift,
dass Paloma ihr Selbstmord-Projekt danach ad acta legen wird.
Im Film macht Renée eine Wandlung
durch, und zwar in dem Moment, als sie Ozus Einladung zum Abendessen
folgt und sofort nach ihrer Ankunft auf die Toilette verschwindet. Dort
lächelt sie dann unverhofft, und der Zuschauer schmilzt dahin...
Als sie Kakuros Wohnung betritt, fühlt sie
sich dermaßen eingeschüchtert und unwohl, dass sie reflexartig nach
einem Versteck sucht. Also geht sie auf die Toilette. Dort wird sie
abrupt mit der japanischen Lebensart konfrontiert: Sie setzt sich auf
die Klobrille – Musik erklingt! Sie drückt auf einen Knopf – Wasser
spritzt ihr ins Gesicht! Die Situation hat durchaus etwas
Erniedrigendes. Aber Renée beschließt, darüber zu lachen, und sagt sich:
„Wenn schon, denn schon...“ Ihr Panzer bröckelt, und sie beginnt,
Vergnügen an Gesprächen und dem Austausch von Vertraulichkeiten zu
finden.
Wie genau waren Ihre Vorstellungen, was
die Kulissen betrifft – mal abgesehen von der Jugendstil-Architektur des
Wohnhauses?
Dass ich die Geschichte in einem zeitlosen
Raum ansiedeln wollte, verstand mein Szenenbildner Yves Brover sehr gut.
Sie spielt zwar im Jahr 2009, aber man sieht keine Handys, keine
Computer, keine technischen Hilfsmittel, die das Wohnhaus mit der
Außenwelt verbinden. Es handelt sich um eine Art geschlossene
Gesellschaft, die sich zeitlich nicht einordnen lässt. In Palomas Zimmer
gibt es keine Poster, keine Handelsmarken, keinen Verweis auf die
heutige Zeit, nur Zeichnungen und Objekte. Gleichzeitig wollte ich
unbedingt vermeiden, dass die Kulissen künstlich oder zu ästhetisch
wirken. Alles sollte naturalistisch aussehen, angereichert mit einem
Hauch Surrealität. Ich hatte ein Bild aus dem Film „Mary Poppins“ vor
Augen – jenen Moment, in dem die beiden Kinder die Bank betreten, in der
ihr Vater arbeitet. Für mich sah es so aus, als würden die Kinder
regelrecht erdrückt von dieser konservativen, großbürgerlichen Schwere.
Meine Erinnerung an dieses Gebäude war zwar recht verschwommen, aber sie
bildete den Ausgangspunkt für die Atmosphäre, die mir für das Wohnhaus
vorschwebte – realistisch ja, aber auch ein wenig abseitig.
Haben Sie deshalb im Studio gedreht?
Das Haus, das ich vor meinem geistigen Auge sah, gab es so nicht.
Deshalb konnte Anne-Dominique Toussaint nachvollziehen, dass ich nicht
aus einer Laune heraus im Studio drehen wollte, sondern dass es der
Geschichte dienlich sein würde. Und so kam es, dass ich mir beim
Drehbuchschreiben den Schnitt der Wohnungen genau ausmalen konnte. Ich
fand es wichtig, dass Ozus Wohnung denselben Grundriss hat wie die von
Palomas Familie, dass sie sich nur durch ihre Möblierung unterscheiden.
Für Familie Josse schwebte mir eine Wohnung vor, wie sie von einer eher
linksorientierten, geselligen, netten und warmherzigen Familie bewohnt
werden könnte, mit Eltern, die auf sympathische Weise neurotisch sind
und nicht auf den ersten Blick unerträglich wirken. Ich wollte unbedingt
das Klischee des bösen Bürgertums vermeiden, wollte keine Wohnung, die
kühl und unpersönlich ist.
Wie sind Sie die Lichtgestaltung
angegangen?
Das Licht sollte bei Renée wie in eine Grotte einfallen. Bei Familie
Josse sollte es hell und licht sein. Bei Kakuro intim und gedämpft.
Patrick, Yves Brover und ich gaben uns viel Mühe, damit die Farben
miteinander harmonieren und eine gemeinsame Farbstimmung herrscht. Mir
schwebten dichte, elegante Bilder vor, aber nichts Überästhetisches. Wir
erzählen eine einfache Geschichte, deshalb war es mir wichtig, dass die
äußere Form eher schlicht und dezent ist.
Und
was schwebte Ihnen für Renées Concierge-Loge vor?
Sie sollte ihr ähneln. Das große
Zimmer und die Küche wirken wie eine Art Schaufenster, sind unpersönlich
und entsprechen dem Klischee der Pariser Concierge. Nicht zu viel, eher
zu wenig. Doch im hinteren Bereich der Wohnung befindet sich Renées
Bibliothek – ein gemütliches Zimmer, das vor Büchern und Hinstellern,
die ihr etwas bedeuten, regelrecht überquillt.wie bei Ausstattung und
Licht, nur Grau, Taupe und Braun in Frage!
BESETZUNG
Renée Michel JOSIANE BALASKO
Paloma Josse GARANCE LE GUILLERMIC
Kakuro Ozu TOGO IGAWA
Solange Josse ANNE BROCHET
Manuela Lopez ARIANE ASCARIDE
Paul Josse WLADIMIR YORDANOFF
Colombe Josse SARAH LE PICARD
Jean-Pierre JEAN-LUC PORRAZ
Madame de Broglie GISÈLE CASADESUS
Madame Meurisse MONA HEFTRE
Tibère SAMUEL ACHACHE
Tibères Mutter VALÉRIE KARSENTI
Tibères Vater STÉPHAN WOJTOWICZ
Bildformat: Cinemascope
Tonformat: Dolby Digital |
STAB
Regie MONA ACHACHE
Drehbuch MONA ACHACHE
frei nach dem Roman „Die Eleganz des Igels“
von MURIEL BARBERY
Produktion ANNE-DOMINIQUE TOUSSAINT
Kamera PATRICK BLOSSIER
Musik GABRIEL YARED
Ton JEAN-PIERRE DURET
ARNAUD ROLLAND
NICOLAS NAEGELEN
Schnitt JULIA GRÉGORY
Szenenbild YVES BROVER
Kostüm CATHERINE BOUCHARD
Casting MICHAEL LAGUENS
SOPHIE BLANVILLAIN
Make-up DIDIER LAVERGNE
Frisuren CÉDRIC CHAMI
Trickszenen CÉCILE ROUSSET |
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