Weltliteratur in der Übersetzung

Woher die deutsche Sprache kommt - Deutungen und Mutmaßungen

Nebst einer Lesung mit Reinhard Kaiser vom 23. März im Frankfurter Goethe-Museum zur Neuübertragung des "Simplicissimus" von Grimmelshausen in einer Ausgabe aus dem Eichborn Verlag. Gedanken und Buchhinweise zu den Wörterbüchern aus dem Duden Verlag vervollständigen das Bild. Sowie eine 5bändige Ausgabe zum Thema: "Sprache" des Linguisten Johannes Heinrichs erschienen im Steno Verlag gibt Einblicke in das theoretische Wissen auf dem Gebiet der aktuellen Sprachforschung.

 Foto: Maass 

Reinhard Kaiser nach seiner Lesung am 23. März 2010 im Frankfurter Goethe-Museum

”Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch“ wurde erstmals 1668/69 in Nürnberg gedruckt. Das Buch zählt zu den großen Romanen des deutschen Barock und zu den Volksbüchern der Deutschen. Schon zu Lebzeiten von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen hatte das Werk bahnbrechenden Erfolg. Zudem gab es mehrere Fortsetzungen und andere ”simplicianische“ Schriften. Der Literaturwissenschaftler Otto Woodtli erwähnt gleich zu Anfang in seinem Band "Staatsräson im Roman des deutschen Barock" aus dem Jahre 1943 den Simplicissimus, indem er feststellt, der eigentliche Sinn der Tendenzromane sei die Aktualisierung der Geschichte. Er sagt:

Die Geschichte ist für Grimmelshausen das universelle Beispiel und der höchste Ausdruck, des in der Wesenlosigkeit trughaften Flucht alles Bestehenden. In der Bewegung mit ihr erhält der Mensch den stärksten inneren Antrieb, weil sie trotz aller scheinbaren Heilsferne die ständige Gottesnähe des durch sie Geworfenen beweisen kann. Dies genügt Grimmelshausen, um seine Versuche mit historischen Stoffen zu rechtfertigen; denn aus allen Geschichtsdarstellungen soll der Leser klar ersehen, "daß dannoch der Allmächtige Gott die seinige, die Ihn lieben, fürchten, ehren und ihm dienen, es gehe auch so bund über Eck in der Welt her, als es immer wolle, ja wann der Teuffel in der Höll gleich selbsten ledig wäre, wunderbarliche weiß erhalte, durchbringe, beschütze, beschirme, und endlich nach ihrer Beständigkeit, gleichsam wie durch das Feuer probiert und geläutert, durch die Wellen des ungestümen Meeres dieser Welt zu dem verlangten sicheren Gestad der ewigen Seeligkeit glücklich anländ."

Dieses Buch soll Persiflage und Parodie auf Wolfram von Eschenbachs Parzival sein. Gilt als Bindeglied zwischen Parzival und Goethes Wilhelm Meister und damit eingereiht in die Geschichte des deutschen Entwicklungsromans. Ein Bekehrungsroman sei der "Simplicissimus", ein Schelmen-, ein Picaro-Roman, ein Abenteuerroman, ein komischer dazu, ein Stück große Satire, ein Narrenspiegel, ein christliches Erbauungsbuch, ein autobiographischer Roman, ein Kriegsroman, ein Zeiten- und Sittenbild, in Teilen eine Utopie, erotische Groteske, ein phantastischer Reisebericht, eine Robinsonade und noch einiges mehr. Johannes Heinrichs erkennt mit theoretischem Ansatz seiner Sprachanalyse besonders stilistische Momente in der Barockliteratur auch noch im Übergang zu einer moderneren Auffassung von Sprache:

"...nämlich der unauffälligeren Allgegenwart von Stilfiguren in literarischen Texten, während der Herausbildung einer autonomen (Dicht)Kunst in der europäischen Moderne (d.h. ihrer Differenzierung von Religion einerseits, von der Politik andererseits ) zum Niedergang der alten (antiken, mittelalterlichen und besonders barocken) Rhetorik beigetragen hat. Dieser Niedergang war umso unaufhaltsamer, als die Auswanderung der Figuren in die stillere und seriösere Literatur nicht bewusst erkannt wurde."

 

"Katalogisiert in Gestalt der sog. ‚rhetorischen Figuren‘, entstammen sie nach Terminologie und Zusammenstellung zwar der antiken Tradition, sind jedoch ihrer Substanz nach großenteils von zumindest über einzelsprachlicher Allgemeingültigkeit (stilistische Universalien?). Die ‚rhetorischen Figuren‘ - so auch heute noch als Pauschalbezeichnung üblich - gehen zurück auf die griechisch-lateinische Antike, wurden uns durch das Mittelalter vermittelt und erlebten ihren Höhepunkt im übertriebenen, manieristischen Formelaufputz der Barocksprache; mit dem Untergang der alten Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden sie in die damals gerade aufkommende Stilistik übernommen. Aus diesem kurzen historischen Rückblick ergibt sich, dass vieles von dem, was vor über 2000 Jahren für die griechische und lateinische Sprache an rhetorisch-stilistischen Begriffen und Regeln festgelegt worden ist, nicht ebenso auch für unsere Zeit und Sprache gelten muss. Es stellt sich daher die Aufgabe, die alten Figuren sinnvoll zu ‚modernisieren.“

Reinhard Kaiser scheute keine Mühen und nahm sich der Arbeit einer Neuübersetzung des "Simplicissimus" gewissenhaft an. Daraus gestaltete sich ein ungeheuerlicher Prozess der ”Entzifferung“, indem er die ”brutale Operation“ des Übersetzens in Angriff nahm.

Nach dreihundertvierzig Jahren sind im Barock geläufige Wörter und Wendungen in Vergessenheit geraten. Eine tückische Spielart der Sprache ist, wenn die Wörter in ihrer Bedeutung verschoben worden sind. Der Übersetzer nennt dies ”falsche Freunde“. Darüber hinaus gibt es Stolpersteine, die das flüssige Lesen und Verstehen behindern. Dazu zählen sprachliche Merkwürdigkeiten, alte Wortformen, altertümliche Schreibweisen, absonderliche grammatische Strukturen, fehlende den Text gliedernde Satzzeichen und anderes mehr.

Der Grimmelshausen Roman scheint mit einer Patina überzogen, die den heutigen Leser vor eine schwierige Wahl stellt. Entweder er liest langsam, hält bei jedem Stutzpunkt inne und räumt ihn mit eigenem Nachdenken aus dem Weg. Oder der Leser liest, wie er es gewohnt ist: zügig und merkt bald, wie er nicht mehr alles mitbekommt. So bietet der Simplicissimus heutigen Lesern die Chance, sich auf zweierlei Weise zu verirren, entweder im Dunst des nur halb Verstandenen oder im Schwärmen von Einzelheiten, die der Klärung und Erklärung bedürfen.“

Hier gilt es, den verborgenen Glanz von Grimmelshausens ”Herzenszähmerin“ wieder zum Vorschein zu bringen. Das Buch durch Übersetzen zu entziffern und hinterher beim erneuten Lesen zu Entdeckungen zu verhelfen, mit denen der Leser nicht gerechnet hätte.

Aufschluß über die sprachwissenschaftlichen Zusammenhänge geben neue Forschungsrichtungen, wie sie seit den 1970er Jahren an den Universitäten gelehrt werden. Hierzu zählt die Linguistik. Johannes Heinrichs ist Professor für Philosophie und Sozioökologie, der sich mit diesem Themengebiet auseinandersetzt. Seine 5bändige Sprachanalyse aus dem Jahr 2008 befaßt sich auf theoretischem Wege zu großen Teilen mit Zeichendimensionen von Sprache, der Semiotik. Zu seinen Untersuchungsbereichen zählen die Umgangsformen im Gebrauch einer Sprache. Wenn die Barocksprache auch nur nebenbei im Zusammenhang erwähnt bleibt, wie hier im Teil über die Satzlehre:

 

Johannes Heinrichs Sprache in 5 Bänden (Philosophische Semiotik Teil II)

5 Bände mit insgesamt 1750 Seiten im Schuber

Steno Verlag München

ISBN 978-954-449-448-3

„Zwischen dem, was der Sprecher über seine Sprache implizit weiß (wir können das seine Sprachkompetenz (competence) nennen) und dem, was er tut (seine Sprachverwendung (performance) muss unterschieden werden. Die Kompetenz eines Sprecher-Hörers kann im idealen Falle als System von Regeln ausgedrückt werden, die Signale und semantische Interpretationen dieser Signale aufeinander beziehen. Die Aufgabe des Grammatikers besteht darin, dieses System von Regeln zu entdecken; die Aufgabe der Sprachtheorie besteht darin, (...) im einzelnen herauszuarbeiten, was wir in traditioneller Ausdrucksweise die allgemeine Sprachform nennen können, die jeder besonderen Verwirklichung, jeder besonderen Sprache zugrunde liegt.“ - „Der bemerkenswerteste Aspekt der Sprachkompetenz liegt in der, wie wir sagen können, ‚Kreativität der Sprache‘, das heißt der Fähigkeit des Sprechers, neue Sätze zu produzieren, die von anderen Sprechern sofort verstanden werden, obwohl sie keine physikalische Ähnlichkeit mit „vertrauten“ Sätzen aufweisen. Die fundamentale Bedeutung dieses kreativen Aspekts des normalen Sprachgebrauchs war mindestens seit dem 17. Jahrhundert bekannt und stand im Zentrum der allgemeinen Sprachwissenschaft Humboldts. Die moderne Linguistik hat es jedoch versäumt, dieses Hauptproblem in Angriff zu nehmen.“

Während der Lesung im Goethe Museum nannte Reinhard Kaiser einige der Quellen, auf die er sich bei der Übersetzung beständig beziehen konnte. Grimms Wörterbuch aus dem Jahre 1860 bezieht sich bei der Herleitung einzelner Wortbedeutungen aus dem Deutschen an vielen Stellen auf Grimmelshausen. Schon daran läßt sich erkennen, welche Bedeutung der "Simplicissimus" für die deutsche Sprachbildung gehabt hat.

 

Das Synonymwörterbuch, Band 8, Ein Wörterbuch sinnverwandter Wörter
Redaktion Dudenverlag,
Rund 300.000 Synonyme zu mehr als 20.000 Stichwörtern.
4., neu bearbeitete Auflage
1104 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-411-04084-1

 

 

Daraus lassen sich wiederum zahlreiche Nachfolgewerke ableiten, die sich bei Quellenangaben stets auf Grimms Wörterbuch beziehen müssen. Mit seiner 12bändigen Reihe bietet der Duden Verlag mehrere solcher Bände, die in der Tradition des Grimmschen Wörterbücher stehen. Zum Beispiel beinhaltet das Bedeutungswörterbuch, Bd. 10, den deutschen  Wortschatz mit Wortbildung und liefert rund 20.000 Stichwörter und Wendungen mitsamt der grammatischen und phonetischen Angaben. Den Grundstein den die Gebrüder Grimm gelegt haben, war also nur möglich durch die Anstrengungen der frühen Romanliteratur während der Barockzeit.

Das Bedeutungswörterbuch Band 10, Wortschatz und Wortbildung
Redaktion Dudenverlag
20.000 Stichwörter und Redewendungen
1152 Seiten, gebunden

4., aktualisierte und erw. Aufl.

ISBN: 978-3-411-04104-6

 

Redewendungen, Band 11, Wörterbuch der deutschen Idiomatik
Redaktion Dudenverlag
Mehr als 10.000 feste Wendungen, Redensarten und Sprichwörter, 960 Seiten, gebunden
3., überarbeitete und aktualisierte Auflage, ISBN: 978-3-411-04113-8

Das Herkunftswörterbuch, Band 7 Etymologie der deutschen Sprache
Redaktion Dudenverlag
20.000 Wörter und Redewendungen in ca. 8.000 Artikeln, 960 Seiten, gebunden

4., neu bearbeitete Auflage,

ISBN: 978-3-411-04074-2

Reinhard Kaiser wurde 1950 in Viersen am Niederrhein geboren. Er ist einer der brillantesten und angesehensten Übersetzer aus dem Englischen. Er studierte Germanistik, Romanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie in Berlin, Paris, Köln und Frankfurt (a.M.), arbeitete als Übersetzer und Lektor (Belletristik und Sachbuch) erst für den Suhrkamp-Verlag und ab 1980 als freier Übersetzer und Lektor für viele große Publikumsverlage.

Seit 1976 übersetzte er über 70 Bücher aus dem Englischen ins Deutsche von Isaiah Berlin bis zu Irene Dische, Sylvia Plath und Susan Sontag, von D.H. Lawrence, Sam Shepard, Neil Postmann bis zu Richard Sennet und schrieb bisher acht Bücher als originaler Autor. Der Anderen Bibliothek ist er seit ihren Anfängen eng verbunden, als Lektor, Übersetzer und Herausgeber von Werken wie Seumes "Spaziergang nach Syrakus" und übersetzte zusammen mit Elena Balzamo ”Warum der Schnee weiß ist. Märchenhafte Welterklärungen“ sowie Olaus Magnus´ Die Wunder des Nordens.

Preise und Stipendien: 1992 Literaturpreis der Stadt Dormagen. 1993 Stipendium des Berliner Senats für die Teilnahme an der Übersetzerwerkstatt im Literarischen Colloquium. 1993 Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreises. 1994/95 Stipendium des Deutschen Literaturfonds für Eos´ Gelüst. 1995 Literatur-Stipendium der Märkischen Kulturkonferenz. 1997 Deutscher Jugendliteraturpreis (Sparte Jugendsachbuch) für Königskinder. 1998 Deutscher Jugendliteraturpreis (Sparte Kinderbuch) für die Übersetzung von Irene Disches Erzählung "Zwischen zwei Scheiben Glück" 2003 Niederrheinischer Literaturpreis.

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen
Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch
Übersetzt und herausgegeben von Reinhard Kaiser
Eichborn Verlag
768 Seiten, gebunden
ISBN: 9783821847696
 

 

Kapitel aus dem ersten und aus dem sechsten Buch wurden während der Lesung am 23. März vorgetragen. Der Übersetzer fragt: "bedeuten die Werte noch das, was sie damals bedeutet haben? Es ist jedenfalls angebracht sehr vorsichtig zu sein." Nicht alle Worte bedürfen der Übersetzung. Reinhard Kaiser zieht den Vergleich, wie wenn aus dem Englischen oder ins Englische übertragen wird. Das Wort "versilbern" zum Beispiel läßt der Autor mehrfach unübersetzt. Um die Bedeutung hervorzuheben, erwähnt er einmal auch das deutsche Wort "verkaufen". Das steht im Satzbau dann im Zusammenhang zu "versilbern". Nicht das Übersetzen im herkömmlichen Sinn ist vordergründig gemeint, sondern das Erkennen als eine Sprache des 17. Jahrhunderts, die damit an den Originalautor erinnern soll. Dieser Eindruck ist mit verantwortlich für das rege Interesse, das auch heute beim Lesen im "Simplicissimus" eine Rolle spielt. Reinhard Kaiser hat zwei Jahre für die Neuübersetzung gebraucht.

Beispielwort: "Freundschaft", was nicht nur Freunde bedeutet, sondern auch Verwandte. Das Wort "Gegenteil" aus dem ersten Kapitel ist nicht nur ein opposit, sondern ist "der Feind auf dem Feld". "Gewehr" ist die Waffe überhaupt, es kann auch ein Kürassier oder Brustpanzer gemeint sein. Das Wort "Entsetzen" leitet sich vom "Aufspringen vom Stuhl" ab.

"Ethliche" sind ziemlich viele, schon bei Winckelmann, dem Antikenforscher aus dem 18. Jahrhundert. Eine andere Erklärung sieht jedoch in "ethliche" die Bedeutung: "einige" oder "ein paar", was den Sinn eines Satzes völlig verändern kann. Reinhard Kaiser erklärt, rund 5.000 Stellen im Grimmschen Wörterbuch entstammen dem "Simplicissimus".

 

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vom 01. Juni 2010