Das
Museum für Kunst und Gewerbe zeigt aus
der eigenen Sammlung das
Werk von vier exemplarisch ausgewählten
Fotografinnen, die während der Zeit der Weimarer
Republik in Hamburg tätig waren: Minya Diez-Dührkoop
(1873 -
1929) und Lotte Genzsch (1907 - 2003)
als produktive Berufsfotografinnen mit eigenem
Atelier, Natascha A. Brunswick (1909 - 2003)
als kreative Autodidaktin und Hildi Schmidt Heins
(geb. 1915) als freischaffende Künstlerin. Die
Ausstellung mit rund 200 Originalfotografien wird
gezeigt im Rahmen des kulturübergreifenden
Forschungs- und Vermittlungsprojektes „Himmel auf
Zeit. Die Kultur der 1920er Jahre in Hamburg“,
gefördert durch die Hermann Reemtsma Stiftung.
Das Leben und das Werk der vier Fotografinnen
umfassen historisch das Deutsche Kaiserreich, die
Weimarer Republik, das „Dritte Reich“, damit auch
zwei Weltkriege, eine Emigration in die USA sowie
die Bundesrepublik Deutschland. Die Rolle der Frau
einschließlich ihrer Möglichkeiten zur
schöpferischen Tätigkeit veränderte sich in dieser
Zeitspanne drastisch. Stilistisch definierbare
Epochen sind die Kunstfotografie um 1900 (Piktorialismus)
und das Neue Sehen der 1920er Jahre. Der
Forschungsverbund
zur Kulturgeschichte Hamburgs an der
Universität Hamburg gibt eine Publikation mit
Beiträgen zu verschiedenen Aspekten des Hamburger
Kulturlebens in den 1920er Jahren vor:
Gartenarchitektur, Fotografie, Tanz, Musik, Theater,
Literatur, Kino, Architektur, Rundfunk und bildende
Kunst.
Minya
Diez-Dührkoop (1873 -
1929) erlernte das Fotografenhandwerk bei ihrem
Vater Rudolf Dührkoop (1848
- 1918), dessen
1883 in Hamburg gegründetes Atelier mit zwei
Berliner Filialen in Deutschland für standesgemäße
Portraits von Politikern, Adligen und Geistesgrößen
führend war.
Dührkoop bediente mit besonders ausgearbeiteten
Vergrößerungen den Wunsch des gehobenen Bürgertums
nach Exklusivität. Seine handwerklich
aufwendigen Abzüge, montiert auf farblich passende
Kartons, wurden von Alfred Lichtwark als „Toilette
der Fotografie“
bezeichnet. Nach Dührkoops Tod 1918 führte
Diez-Dührkoop die seit 1906 im Heinehaus am
Jungfernstieg 34 ansässige „Werkstatt für das
künstlerische Kamera-Bildnis“ erfolgreich weiter.
Die
Fotografin gehörte 1919 zu den ersten Mitgliedern
der sich als Elite verstehenden GDL (Gesellschaft
Deutscher Lichtbildner), war Teil des Hamburger
Kulturlebens und sammelte zeitgenössische Kunst.
Sie
pflegte Kontakte zu Literaten wie Richard und Ida
Dehmel und Künstlern wie Max Pechstein, Franz
Radziwill und Karl Schmidt-Rottluff. Seit 1910 war
sie Passives Mitglied der seit 1905 bestehenden
expressionistischen Künstlergemeinschaft Die Brücke
und seit seinem Entstehen 1920 Mitglied in dem von
Rosa Schapire zusammen mit Wilhelm Niemeyer
gegründeten Kunstbund Hamburg. Im Museum für Kunst
und Gewerbe blieben u. a. insgesamt 28
Originalabzüge der so genannten Tanzmasken erhalten,
die das Hamburger Künstlerpaar Lavinia Schulz (1896
- 1924) und Walter
Holdt (1899 -
1924) in charakteristischen Posen mit ihren
expressionistischen Kostümen präsentieren.
Diez-Dührkoop fotografierte sie in
konstruktivistischen, an Art déco erinnernde Formen
im Hintergrund mit optischen Verdopplungen von
Teilen der Masken durch starke Schlagschatten oder
expressionistische kristalline Elemente in anderen
Bildern.
Gehört Diez-Dührkoop
biografisch wie fotohistorisch zur früheren
Generation, wurde die Fotografie in der
Aufbruchstimmung der Weimarer Republik für Lotte
Genzsch (1907 - 2003) zum Instrument eines
neu definierten Frauenberufs und für Brunswick und
Schmidt Heins zum künstlerischen Mittel.
Das innovative Neue Sehen brachte ungewohnte
Blickwinkel auf eine lebensnahe Alltäglichkeit.
Diese Fotografie ist so vielfältig wie die
Persönlichkeiten der Künstlerinnen und Künstler, die
sie prägten. Genzsch, Brunswick und Schmidt Heins
gestalten jeweils ihre eigene individuelle Sicht.
Ihre Ausbildung als Fotografin absolvierte Lotte
Genzsch 1927 beim legendären, damals
ausschließlich der Ausbildung von Frauen
vorbehaltenen Lette-Verein in Berlin. Nach der
Gesellenprüfung 1929 arbeitete sie freischaffend und
machte sich nach der Meister-prüfung 1936 mit dem
Schwerpunkt Portrait in Hamburg-Blankenese
selbständig. 1960 erfolgte eine vollständige
berufliche Neuorientierung als
Beschäftigungstherapeutin.
Fasziniert vom
besonderen Licht im „Venedig des Nordens“ setzte die
Fotografin mit ihren um 1932 im Hamburger Hafen
entstandenen Aufnahmen den Arbeitern ein Denkmal.
Mit programmatischem Titeln wie „Schwere Arbeit im
Fleet“ zeigt sie die Schnittstelle zwischen
Kunstfotografie, die sich bereits für die
Materialität des Gesehenen mitsamt den Lichtreflexen
zu interessieren begann, und Neuem Sehen, das durch
prägnante Anschnitte und dynamische Schrägen
Bewegung ins Bild setzt. Untersicht ist das
Gestaltungsmittel für „Deutsche Werft“, auf
der die monumentale, konstruktivistisch anmutende
Stahlkonstruktion die Männer zwergenhaft werden
lässt. Im spezifischen Moment der Aufnahme sind die
einzelnen, Kraft erfordernden Arbeitsschritte
festgehalten in einer Dingwelt, deren Oberflächen
haptisch anmutend den Blick faszinieren. Das Licht
spielt eine bedeutende Rolle.
Die
Fotografien von Natascha A. Brunswick (1909 -
2003) leben vom progressiven Geist der ersten
deutschen Republik, die gerade für kreative Frauen
eine neue Freiheit bedeutete. Es ist ein
facettenreiches und unwiederbringlich vergangenes
Bild des damaligen Hamburg, in dem sie von 1924 bis
1937 lebte. Mit ihrem ersten Mann, dem Mathematiker
Emil Artin (1898 - 1962), und den Kindern Karin
(*1933) und Michael (*1934) musste sie ihrer
jüdischen Herkunft wegen Deutschland verlassen. Sie
hörte mit dem Fotografieren auf, als
ihr, der "enemy alien"
(feindliche Ausländerin), die Kamera
abgenommen wurde. Ihre Bilder gerieten völlig in
Vergessenheit und wurden erst 1996 zufällig vom Sohn
Tom (*1938) wiederentdeckt, der sie sogleich als
bedeutend erkannte. Statt ihrem Wunsch, am Bauhaus
Architektur zu belegen, entschied sie sich aus
finanziellen Gründen für das Mathematikstudium und
Kunstgeschichte im Nebenfach, unter anderem bei
Erwin Panofsky und Ernst Cassirer, die beide bis
1933 in Hamburg lehrten.
Schon als
Schülerin der Hamburger Lichtwarkschule, die sich
durch die Integration von wissenschaftlicher,
praktischer und kreativer Bildung auszeichnete,
hatte Natascha Brunswick mit einer Box-Kamera
gearbeitet. Später fotografierte sie mit einer
Leica. Ein Beispiel für spontane, lebendige
Momentaufnahmen mit der hochwertigen Kleinbildkamera
zeigt eine Dreierserie der Schwester Tanja. Das
Mädchen trägt eine moderne Kurzhaarfrisur und sitzt
auf dem sonnigen Balkon, was den
gesundheitspolitischen Vorstellungen der Weimarer
Zeit entspricht. Das Lesen eines Buches erzählt von
Schulbildung und Lernen, zugleich kann es
Freizeitvergnügen sein, lässt also auf eine
bürgerliche Familie schließen. Die Leica mit dem
lichtstarken Objektiv rückte Privates und
Persönliches ins Blickfeld, ohne an gestalterischer
Kraft zu verlieren. Die Fotografin suchte das Spiel
von Licht und Schatten, komponierte knappe
Bildausschnitte und inszenierte die
abwechslungsreichen Oberflächen der Dinge und des
menschlichen Körpers (Haut, Haar) in der Umgebung
von geometrischen Strukturen von Wänden, Balkontür
und Tisch. Modelle und Motive fand Brunswick in
ihrer eigenen Umgebung: Mann und Kinder, die Mutter,
befreundete Kollegen mit ihren Familien, Künstler
wie Heinrich Stegemann und seine Frau, Hamburgs
Straßen und Gebäude, Architektur und Landschaft
unterwegs auf Fahrten durch Deutschland. Es ist eine
Zeitreise in die zwanziger Jahre: „Wie ich es sah.“
Das
fotografische Werk von Hildi Schmidt Heins
gründet nicht nur gestalterisch in den zwanziger
Jahren, als der Vater ihr früh das fotografische
Handwerk nahe brachte. Der technikbegeisterte
Baumschuler Wilhelm Heins (1884 - 1959) pflegte eine
damals anspruchsvolle Liebhaberei und hinterließ als
Amateurfotograf ein Werk, das sich stilistisch in
die Epoche der Kunstfotografie einreiht. Schmidt
Heins (*1915) studierte ab 1934 Gebrauchsgrafik und
Fotografie an der Hansischen Hochschule für bildende
Künste in Hamburg (heutige HfbK) bei: Hugo
Meier-Thur (1881 - 1943, in Gestapo-Haft ermordet),
einem überzeugten Vertreter des Bauhauses, der ab
1926 die Klasse für Schriftzeichen und
Gebrauchsgrafik leitete; Johannes Grubenbecher
(1886–1967), der seit 1914 Fotografie unterrichtete;
Carl Otto Czeschka (1878 - 1960), der seit 1907
Flächenkunst und Malerei, später Gebrauchgrafik
lehrte; Rudolf Neugebauer (1892 - 1961), der als
‚künstlerisch freischaffender Lehrer’ von 1933 bis
1945 am Lerchenfeld wirkte. Bezeichnend für die
künstlerische Auffassung von Schmidt Heins ist ihre
Einstellung, wie sie bei ihrem geplanten Wechsel zu
Czeschka zum Ausdruck kommt. Die Studentin will
gleichzeitig in der Fotografieklasse bleiben und bei
Czeschka Grafik studieren. Als dieser eine
Entscheidung für eine der Gestaltungsformen
verlangt, bekommt er zur Antwort: Das gehört für
mich zusammen. Beide Medien gehen in den zwanziger
Jahren eine spezifische Verbindung ein. Die
Fotografie des Neuen Sehens misst der Gestaltung der
Bildfläche eine wesentliche Bedeutung zu und
emanzipiert sich somit endgültig als Kunst.
1938
wurde Schmidt Heins wegen Nichterscheinens zu einem
Pflichtappell von der Schule verwiesen, ein von
Zivilcourage bestimmtes Verhalten. Es folgte ein
Semester an der Akademie der Bildenden Künste
München. 1939 trat sie eine Stelle als
Gebrauchsgrafikerin im Deutschen Handwerksinstitut
in Berlin an und fotografierte in dessen Auftrag von
1941 bis 1943 prototypisch Werkstätten in streng
neusachlicher Manier. Nach 1945 wandte sie sich
vollständig der bildenden Kunst zu. Die 1949
geborenen Zwillingsschwestern Barbara und Gabriele
Schmidt Heins, die nach einem Studium am Lerchenfeld
in der nächsten Generation als freischaffen-de
Künstlerinnen wirken, thematisierten in der
Ausstellung „Heins ▪ Schmidt Heins – Drei
Generationen Fotografie“ 2004 im Museum für Kunst
und Gewerbe Hamburg ‚die eigene GESCHICHTE“ im
musealen Kontext mit aktuellem Bezug zur Gegenwart.
Publikation:
Das Buch
„Himmel auf Zeit. Die Kultur der 1920er in Hamburg“,
Wachholts Verlag Neumünster, 28
Euro, gibt einen umfassenden Einblick in die
Entwicklungen und Ausprägungen einzelner
Kulturgattungen zur Zeit der Weimarer Republik in
Hamburg: in Theater, Literatur, Tanz, Kino, Musik,
Radio, Architektur, Raumgestaltung, Kunst,
Fotografie, Gartenkunst und angewandte Kunst. Das
Buch verdeutlicht die Vernetzung der einzelnen
Kulturgattungen und die Zusammenarbeit der Künstler.
Mit einem Vorwort von Dr. Sebastian Giesen, Hermann
Reemtsma Stiftung, und Beiträgen von:
Gabriele
Betancourt Nuñez, Ina Ewers-Schultz, Oliver Fok,
Michaela
Giesing, Gabriele Grumke, Hanns-Werner Heister, Dirk
Hempel,
Rüdiger Joppien,
Ursula
Kellner, Nele Lipp,
Katrin Maibaum,
Corinna Müller,
Sonja Neumann,
Hanjo Polk,
Jörg Schilling,
Wencke
Stegemann, Andreas Stuhlmann, Hans-Ulrich Wagner,
Friederike Weimar. Mit einer Auswahlbibliografie
zur Hamburger Kulturgeschichte, Namensregister,
Veranstaltungskalender und Abbildungsnachweis.
Informationen: www.himmelaufzeit.de
Kuratorin: Gabriele Betancourt Nuñez
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 11 – 18 Uhr,
Mittwoch und Donnerstag 11 – 21 Uhr
Eintrittspreise: 8 € / 5 €, Mittwoch und
Donnerstag ab 17 Uhr immer 5 €
Kinder
und Jugendliche unter 18 Jahre frei