Wer
an schöner Wohnen denkt oder sich über einen Ratgeber mit ästhetischem
Inhalt bei der Wohnungseinrichtung freut, der wird sich enttäuscht sehen. Jürgen Hasse kommt aus einem Fachbereich, der
mit sozialwissenschaftlichen Fragen in gesellschaftlichen
Brennpunkten befaßt ist und diese durch konkret erworbene oder empirisch
ermittelte Resultate offen zulegen versucht. Es geht hierbei darum, das
Wohnen vom profanen Einrichten zu lösen. Und es geht darum die Auseinandersetzung
weiter zu fassen, als dies bisher im Alltagsdenken verankert ist.
Der Autor bezieht sich mit seinen Thesen
auf den Philosophen Martin Heidegger mit seiner Formulierung: "Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen
auf der Erde sind." (Heidegger 1951) womit das Wohnen auf das Ganze des
Lebens bezogen ist und das moderne "Eingerichtet sein" weit übersteigt.
Zur kulturellen Form des Hausbaus gehört der Blick in die Umgebung oder
auch der Bild generierende Blick. Wohnen bleibt immer ein biographisch
und kulturell geprägtes Geschehen. Wer dagegen einen solchen Ort nicht
hat, kann nur Wohnen wie ein Unstetiger. Es gibt eine metaphysische
Ebene in der Dinge wohnen. Zitiert wird der Satz: "Der Schrecken wohnte
in seinen Augen...". Im Wohnen überlagern sich damit zwei Formen des
Welt- und Selbstbezugs, eine geistig denkende und eine leiblich
befindliche.
Grundlage der Studie ist das Ziel, Wohnen
wieder in den Denkhorizont des Menschen zurückzubringen. Pragmatisch
gesehen sollen damit Immobilienmarkt oder die Folgen der Migration in
Deutschland angesprochen sein. Letztlich sieht sich Jürgen Hasse mit
seiner Definition des Wohnens gar nicht mehr in den Sozialwissenschaften
beheimatet, sondern führt in einen Bereich hinein, der eher zur
Phänomenologie gehört. Einen weiten Bogen schlägt er, um von Heidegger
auf Foucault zu gelangen, nachdem "das Wohnen im Geviert" in Heideggers
Sprache allmählich im Allgemeinwissen des Lesers angekommen sein dürfte.
Eine
Definition von dem was Wohnen bedeutet oder was daraus geworden
ist, wird gleich zu Anfang gegeben, indem der Mensch als handelnder
Akteur dazu neigt nur das "starke" Individuum anzuerkennen, das sich
durch ein rationalistisch entworfenes Kunstwesen auszeichnet. Zwar
selbst bestimmt, aber zugleich durch eine gezielte Programmatik in Gang
gehalten. Weshalb, so Jürgen Hasse, nicht einfach von einem
Vergessen-Machen des Wohnens die Rede sein kann. Wohnen wird immer
wieder viel zu sehr vom menschlichen Verstand vereinnahmt, hat damit
nicht mehr die Qualitäten, wie sie gerade in der hermeneutischen
Philosophie Heideggers zum Ausdruck gebracht worden ist.
Mit der Überschrift: Wohnwelten ver-orten beginnt der nächste
Abschnitt. Im Folgenden werden neun beispielhafte Formen des Wohnens
illustriert. Das geschieht an verdeckten Rändern der Gesellschaft, wie
Obdachlosenasyl oder ästhetisierten Rändern wie repräsentatives
Wohnen in einer Luxuswohnung, innere Ränder in Gestalt von
Gefängnissen, das Wohnen im Heim für Seeleute, einem
Kloster oder Wohnen für Alte. Ein Beispiel beschreibt
das Wohnen in der Wagenburg draußen, wieder anderes erwähnt
Kreatives Wohnen in Kollektiven und in der Wohngemeinschaft. Nicht
zu vergessen der Soziale Wohnungsbau und sein in den Grenzen
gedachtes Wohnen.
Skizze vom 03.07.2009 |
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Panoptisches Schema, Frauengefängnis in
Preungesheim |
Empirische Ansprüche der
Repräsentativität werden mit der Darstellung der Fallstudien nicht
verbunden. Im narrativen Sinne sollen vielmehr Einblicke in verschiedene
Lebenssituationen gewährt werden. Die ungewohnten Perspektiven sollen
dazu führen, um durchaus auch einmal das eigene Wohnen zu hinterfragen.
Von Bedeutung ist vielleicht,
daß zu jedem Beispiel am Schluß des Beitrags
eine Retrospektive gegeben wird, eine
Zusammenfassung um zu rekapitulieren und Gedankengänge zu erweitern. Das
ist hilfreich, weil innerhalb der Textabschnitte sowohl philosophische
Bezüge gegeben werden als auch Raum für zahlreiche Parenthesen genommen
wird. Wenn diese Erweiterungen nicht vorkämen, wären die Interviews
bloße Materialsammlung. Das aber soll gerade durch die Definition, von
dem was Wohnen bedeutet, auf eine andere Ebene des Verständnisses
transferiert werden.
Zu Beginn stehen zwei
Interviews, die Wohnen im Gefängnis beschreiben, wobei die Frage bleibt,
inwieweit das wirklich ein Wohnen ist, wenn man gezwungen ist sein Leben
an einem Ort zu verbringen, ohne eine Wahl zu haben. Jürgen Hasse will
die Empathie beim Leser erreichen für Menschen, die in solchen extremen
Situationen ihr Wohnen gestalten müssen.
Die Fragwürdigkeit zu den
Hintergründen stellt sich
auch im nächsten Beispiel, die Obdachlosen Unterkunft am Frankfurter
Ostpark, die 2009 übrigens durch Günter Wallraff und dessen Undercover
Recherchen Bekanntheit erlangte, als Wallraff die Obdachlosen Unterkunft
bewohnte und kritisch über den zweifelhaften Umgang mit den Menschen
dort berichtete.
Im nächsten Beispiel wird das
klösterliche Wohnen im Refectorium des Kapuzinerkloster in
Frankfurt vorgestellt, dem Gemeinschaftsraum der Mönche, wo alle Fäden
zusammenlaufen. Die eigene Klause ist dort nicht das Zentrum des
Wohnens. Das Refectorium bietet Möglichkeiten des Austauschs
zwischen den Mönchen, während die Klause als Ort des Rückzugs
vorbehalten
bleibt.
Von der Seefahrt ins
Seemannsheim lautet die nächste Überschrift. Wer längere
Zeit auf einem Schiff verbringt, wohnt in einem "Raum im Raum". Die
Außenhaut des Schiffs fungiert als Grenze, die als Umfriedung empfunden
werden kann. Für Michel Foucault ist das Schiff der andere Ort, die Heterotopie
schlechthin (Foucault 1966). Die Älteren kommen damit nicht zurecht, so
die Annahme. Der ehemalige Seemann F. wohnt im Hamburger Seemannsheim
neben der St. Michaelis Kirche. Sein zu Hause sieht er als Kompromiss,
als letzten Ort vor der Asozialität oder der Verwahrlosung. Auf eine
Wohnung auf dem freien Markt verzichtet er, weil er mit dem Milieu nicht
zurecht kommt. Wohnen im Alter
gestaltet sich allgemein schwierig, weil die meisten Menschen sukzessive an den
Rand der Gesellschaft geraten. In Altenwohnzentren sind Appartements in
Fluren zusammengefaßt. Diese fördern soziale Vernetzung und lassen
nachbarschaftliche Beziehungen entstehen. In der Broschüre von "Sunrise"
wird gefragt, was ist Luxus und was ist Notwendigkeit? Essen und Trinken
und am Leben teilnehmen, lautet die Antwort. Die Lebenszufriedenheit
wird demnach durch die hohe Qualität im Domizil bestimmt.
Neben einer Reihe aufgezählter Wohnmöglichkeiten alter Menschen und
deren gesellschaftlicher Dimension werden neue Wohnmöglichkeiten
beschrieben, wie Haus- oder Siedlungsgemeinschaften. Hierzu zählt auch
das Mehrgenerationenhaus. Altenwohngemeinschaften sind Zweckverbände. Es
ist Aufgabe der Stadtplanung und des innovativen Bauens, so die
Forderung des Autors, auf diese Belange einzugehen. Beispiele des
Wohnens im Alter drücken das Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung und aktives, anregungsreiches sowie sozial vernetztes Leben aus.
Mit dem sozialen Wohnungsbau wiederum gehen bauliche, ökonomische als
auch ästhetische
Rahmenbedingungen einher. Die Versorgung der Gesellschaft mit Wohnraum
ist von so großer Bedeutung, daß im Buch nur Grundstrukturen des
sozialen Wohnungsbaus beschrieben werden. Zu den Herausforderungen zählt
die raumordnungs- und sozialpolitische Vorgehensweise, damit nicht nur
Wohneigentum für Besserverdienende geschaffen wird.
Das nachfolgende Beispiel
illustriert zwei Wohnformen in der "Belle Etage" der Besserverdienenden,
wie sie für das Auftreten der bürgerlichen Gesellschaft typisch sind.
Gewählt wurde ein Beispiel aus dem Frankfurter Westend, das mit
gründerzeitlichen Stadtvillen aus dem späten 19. Jahrhundert
bürgerlichen Ansprüchen des Wohlstands durchaus gerecht werden kann.
"Wohnung ist etwas wie Liebe, das man spürt", lautet ein Zitat hierzu.
Das freut den Leser, zumal ein solches Vorstellungsbild alternativen
Wohnvorstellungen nicht konträr gegenüber steht.
Unbedachtes Wohnen
Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft
von Jürgen Hasse
unter Mitarbeit von Jessica Witan
transcript Verlag, 1. Auflage (Juni 2009)
251 Seiten, broschiert
Größe: 22,4 x 13,6 x 1,8 cm
Gewicht: 370g
ISBN: 978-3837610055 |