Statement
des Autors und Regisseurs Edgar Hagen
Wir sind fassungslos, wenn ein Mensch in seinen Grundfesten
erschüttert wird, ausrastet und durchdreht. Unabhängig von
Schicht, Alter und Geschlecht – es kann jedem passieren: Eine
lange Beziehung geht in Brüche, ein Kind stirbt... und plötzlich
landen sogenannte „gestandene Menschen“ auf einer geschlossenen
Station. Das Umfeld ist in diesem Moment meist hilflos und oft
voller Angst. Aber sobald die Krise überstanden ist, wird wieder
verdrängt, was eigentlich passiert ist. Woher kommt diese
Hilflosigkeit? Hat sie vielleicht damit zu tun, dass wir nicht
wissen, was eigentlich passiert, wenn ein Mensch durchdreht und
vor allem, wie er wieder normal wird? Wir wissen inzwischen sehr
viel über Hirnstoffwechsel aber wenig über den Verstand oder den
menschlichen Geist. Wie funktioniert er und wie verhält er sich
in Extremsituationen? Wie kann er zurückgeholt werden, wenn er
abgedriftet ist? Dieser Unsicherheit und allgemeinen
Unwissenheit nachzugehen, war die Herausforderung dieses Films.
Dieser Film erzählt vom menschlichen Geist, der durch Krisen
hindurchgeht. Dabei geht es mir in erster Linie darum, das
allmähliche Erwachen nach dem geistigen Zusammenbruch
darzustellen und nicht, den Weg in den Wahn hinein zu zeigen.
Möglich wurde dies durch die Fokussierung auf eine neuartige
Vision, die aus altem Wissen eine gewandelte Einstellung zu
geistiger Verwirrung und den Umgang damit ableitet – und das ist
letztendlich für uns alle relevant.
"Die Vision ist die Auflösung der
hierarchischen Struktur zwischen Therapeut und Klient"
Psychiater und Klienten
Edward Podvoll
genannt Lama Mingyur (1936 -2003) ist Arzt, Psychiater,
Psychoanalytiker und buddhistischer Lama. «Wer einen Verstand
hat, kann ihn auch verlieren», ist eine von Podvolls
Grundüberzeugungen. Als junger Psychiater macht er in der
Tradition von Frieda Fromm-Reichmann (dem Vorbild der Ärztin in
„I Never Promised You a Rose Garden“) schon früh die Erfahrung,
dass Psychosen heilbar sind. Er fasst die Psychose als eine
spirituelle Krise auf, nicht als eine unheilbare Krankheit, wie
in vielen traditionellen Lehrmeinungen behauptet wird. Die
Begegnung Podvolls mit dem Tibeter Chögyam Trungpa Rinpoche in
den 70er Jahren und seine Auseinandersetzung mit buddhistischer
Meditation stärkt dieses Vertrauen, dass Heilung auch aus
extremsten Geisteszuständen heraus möglich ist. Podvoll wird zum
Leiter des neuen Instituts für kontemplative Psychologie an der
von Trungpa begründeten Naropa University in Boulder, Colorado.
Podvoll entdeckt sowohl durch den
tibetischen Buddhismus als auch in gezielten Drogenexperimenten,
dass jeder Mensch über einen gesunden Kern verfügt. Selbst in
grösster Verwirrung ist es möglich, mit ihm in Kontakt zu
treten. Diese Entdeckung ist der Schlüssel zur Heilung und das
Fundament zum Windhorse-Projekt, das Podvoll 1981 in Boulder
begründet. Zentral in diesem Projekt zur Behandlung und Heilung
von Menschen in geistigen Extremzuständen ist auch die
Bereitschaft des Therapeuten, seinen eigenen Geist zu
erforschen, die Distanz zu dem Klienten aufzugeben und in
völliger Offenheit in ein authentisches Verhältnis mit ihm zu
treten. 1990 zieht sich Podvoll zu einem strikten Retreat in ein
tibetisch-buddhistisches Kloster in Frankreich zurück.
Buddhismus ist für ihn auch hier nie Religion, sondern eine Form
von Tiefenpsychologie, die auf eine 2500jährige Tradition in der
Betrachtung des menschlichen Geistes zurückblickt. Ende 2002
entschliesst sich Podvoll, inzwischen an Krebs erkrankt, in die
USA zurückzukehren und dort sein Lebenswerk im Umfeld seiner
Schüler im Windhorse- Projekt abzuschliessen. Einige Wochen vor
seinem Tod kommt es im Herbst 2003 zu einer längeren filmischen
Begegnung zwischen Edgar Hagen und Edward Podvoll, die zu einer
Art Vermächtnis wird.
Jakob Litschig ist Arzt, Psychiater
und Psychotherapeut in Zürich. Er hat eigene
Psychose-Erfahrungen und verliert aufgrund eines psychiatrischen
Gutachtens 1997 die Lizenz, eine ärztliche Praxis zu führen.
Sein persönliches Engagement gilt der Suche nach alternativen
Ansätzen in der Psychiatrie, die die Heilungschancen von
Psychosen radikal verbessern. Er ist u.a. Mitbegründer des
Verbandes Psychose-Erfahrene Schweiz (VPECH) und des
Psychose-Seminars Zürich, wo Betroffene
über ihre Erschütterungen berichten. Eine wichtige
Inspirationsquelle für seine
therapeutische Suche ist die Arbeit von Edward Podvoll.
In einem Wohnmobil als mobiler Forschungs-
und Therapiestation begleitet Jakob Litschig im Film Kaspar,
Andrea und Anonymus an die Orte, wo deren
Psychosen ausbrachen. Jeder von ihnen erfuhr über viele Jahre
hinweg unzählige Einweisungen in psychiatrische Kliniken. Was
gemeinhin als völlig unfassbares, irrationales Geschehen – als
Wahnsinn – aufgefasst wird, entschlüsseln sie im Film gemeinsam
mit Jakob Litschig. Auf ihrer Reise durch die Schweiz und
Italien entdecken sie, dass sowohl die Extremform der Gewalt
gegen sich selbst als auch gegen Andere zunächst immer der
verzweifelte Hilfeschrei eines Menschen ist, der durch seine
Lebensumstände unter Druck geraten ist.
Karen lebt in Colorado. Bereits
während ihrer College-Zeit erlebt sie die ersten Psychosen und
wird mit 21 Jahren für drei Jahre in einer renommierten
psychiatrischen Privatklinik in Kansas interniert. Ärzte
bescheinigen ihr, dass sie unheilbar geisteskrank ist. Als
Ausweg aus dieser Situation sieht sie nur die Flucht aus der
Klinik. Sie springt aus dem zehnten Stockwerk eines Hochhauses
und überlebt. Als sie später als Klientin zu Edward Podvoll nach
Boulder kommt, ist diese Begegnung die Initial-Zündung für das
Windhorse-Projekt. Gemeinsam mit Studenten richten sie den
ersten „Windhorse-Haushalt“ ein. Karen ist nach wenigen Monaten
geheilt und lebt inzwischen seit vielen Jahren ohne
Psychopharmaka ein selbst bestimmtes Leben. Podvoll widmet Karen
ein wichtiges Kapitel in seinem Buch „Verlockung des Wahnsinns“.
Darin erzählt er den aufwühlenden und faszinierenden Weg zur
Heilung, den sie gemeinsam zurücklegten. Im Herbst 2003 kommt es
anlässlich des Besuchs von Edgar Hagen im Haus von Podvoll nach
Jahren zu einer ersten Begegnung zwischen Karen und Podvoll.
Karen entscheidet sich, zusammen mit dem Regisseur eine
filmische Reise zu machen, die sie zurück an die Orte ihrer
traumatischen Erlebnisse führen wird.
Tilman Borghardt genannt Lama
Lhundrup ist Arzt und Retreatleiter im tibetischbuddhistischen
Kloster Dhagpo Kundreul Ling in der Auvergne, Frankreich.
Gemeinsam mit Edward Podvoll war er hier während drei Jahren in
einem strikten Gruppenretreat. Lhundrup erlebte sowohl als Arzt
als auch als Retreatleiter einige Menschen, die auf ihrer
spirituellen Suche Psychosen erfuhren. Wie Podvoll definiert er
Psychosen als einen extremen Zustand des Geistes. Mit großer
Klarheit über die eigenen Extreme ließe sich seiner Meinung nach
die Tür zur Heilung auch von schwersten Psychosen und chronisch
gewordenen Schizophrenien aufstoßen. Lhundrup: «In der
westlichen Tradition ist dieses Wissen verschüttet; wir sind
zutiefst davon entfremdet.» Lhundrup führt im Film in die Welt
der geistigen Selbsterforschung Podvolls ein und erläutert die
neuartige Sichtweise in Podvolls Ansatz: die Verbindung von
westlicher und östlicher Psychologie. Es geht nicht darum,
Menschen zu pathologisieren, sondern sie auch in schwersten
geistigen Krisen darin zu unterstützen, ihre gesunden Anteile zu
entfalten.
Eric Chapin ist Psychotherapeut im
Windhorse-Projekt in Boulder, Colorado. Er arbeitete während 13
Jahren in der forensichen Psychiatrie in El Paso, Texas, und sah
sich dort mit unermesslichem, unbewältigtem Leiden konfrontiert.
Ein Artikel von Edward Podvoll in einer Zeitschrift veranlasst
ihn Mitte der achtziger Jahre, nach Boulder zu reisen und bei
Podvoll zu studieren. Er will von ihm erfahren, wie sich
schwerstes geistiges Leiden – oder Psychose – transformieren
lässt. Inzwischen ist er einer der erfahrensten
Psychotherapeuten im Windhorse-Projekt. Er unterrichtete auch
während vielen Jahren als Nachfolger von Edward Podvoll an der
Psychose- Klasse der Naropa University. Im Film entwickeln
Chapin und Podvoll noch in einer gemeinsamen Veranstaltung ihre
neue Auffassung von Psychotherapie.
In seiner Arbeit mit Klienten schreckt Eric
Chapin vor keinen Schwierigkeiten zurück. Das unerschütterliche
Vertrauen in die Gesundheit und Intelligenz seiner teilweise
schwerstgestörten Klienten findet er u.a. in einer durch Podvoll
inspirierten Retreat- Praxis, der er sich in einem alten
Schulbus fernab in der Wildnis der Rocky Mountains regelmässig
unterzieht. Von dort aus begleitet der Film Chapins
faszinierenden Alltag, wie er seine Klientin Susan (51) zuhause
besucht, die während vielen Jahren nicht mit ihm sprechen wollte
und im Film nun gemeinsam mit ihm über Sinn und Zweck ihrer
gemeinsamen Sitzungen reflektiert. Ein weiterer Klient ist
Jonathan (47), der 20 Jahre seines Lebens immer wieder in
Kliniken eingewiesen wurde und in Gefängnissen saß und heute in
der Lage ist sein Leben zu reflektieren.
Schließlich kehrt der Film am Schluss zu
Eric Chapins Schulbus zurück, dorthin wo die Asche von Podvoll
seit seinem Tod im Dezember 2003 in einer kleinen orangen Dose
ruht.
Drehorte
Schweiz:
- Zürich und Umgebung wie die Psychiatrische Universitätsklinik
Burghölzli, Zürich
Italien:
- Reggio nell Emilia wie Ex-Ospedale Psichiatrico Giudiziario, Reggio nell’Emilia
- Genua und ligurische Küste
Frankreich:
- Biollet, Auvergne
- Kloster und Retreat-Zentrum Dhagpo Kundreul Ling
USA:
- Boulder, Colorado und Umgebung wie Haushalte und Wohnungen von
Windhorse Community Services;
- Naropa University, Departement of Contemplative Psychology
- Rocky Mountains, Colorado wie Meditations-Räume im Shambala
Mountain Center in Red Feather Lakes
- Interstate 70 zwischen Boulder, Colorado und Topeka, Kansas
sowie das Gelände einer ehemaligen Privatklinik und der Jayhawk
Tower in Topeka
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