Als Wilhelm
Worringer, ein Schüler des Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin,
1908 in seiner Dissertation einen ursprünglichen
„Abstraktionsdrang“ konstatierte, hatte er nicht die Kunst
seiner Gegenwart im Sinn, sondern ein in die Vergangenheit
zurückreichendes, in der Gotik kulminierendes „Kunstwollen“.
Gleichwohl erinnert seine Auffassung von der Linie als
Gestaltungselement an den Jugendstil, und noch im zeitlich
folgenden Expressionismus beziehen sich Künstler auf die Thesen
des 1881 in Aachen geborenen Wissenschaftlers. Worringers
Schrift wird dadurch zu einem zentralen Beispiel für die
vielfältigen, oft verdeckten Korrespondenzen zwischen
Kunstgeschichte und moderner Kunst.
Obwohl sich die um 1900 erst seit wenigen Jahrzehnten bestehende
akademische Kunstwissenschaft nur selten mit zeitgenössischen
Kunstphänomenen auseinandersetzte, teilte sie mit der damaligen
Moderne das „Problem der Form“. So lautet der Titel einer
Schrift des Bildhauers Adolf Hildebrand aus dem Jahr 1893, die
sowohl von Kunsthistorikern als auch von Künstlern intensiv
rezipiert wurde. Die Suche nach Stil-Kategorien jenseits der
Naturnachahmung traf sich mit der Abkehr vom Naturalismus, und
gerade diese Erfahrung von „Moderne“ führte zur
wissenschaftlichen Neubewertung vieler bis dato als
„Verfallsstile“ abgewerteter Epochen und Stile der
Kunstgeschichte.
Solchen
exemplarischen Schnittstellen von kunstwissenschaftlicher
Theoriebildung und zeitgenössischer Kunst widmete sich die
Tagung des Kunstgeschichtlichen Instituts der Goethe-Universität
vom 25. bis 27. November 2011 auf dem Campus Westend. Die von
Prof. Hans Aurenhammer und Prof. Regine Prange konzipierte
Konferenz wurde von der Gerda Henkel Stiftung, den Freunden der
Universität und der Benvenuto Cellini-Gesellschaft unterstützt.
Im Zentrum der
Vorträge stand die Frage, wie sich die Kunstgeschichte zwischen
1890 und 1960 – während sie sich selbst als Wissenschaft
etablierte – den Innovationen der modernen Kunst stellte und
welche Auswirkungen dies für das Verständnis der alten Kunst
hatte. Unter anderem thematisiert wurde, auf welche Weise
Phänomene und Konzepte der frühen Moderne (so das Ornament oder
der isolierte Farbfleck) auf die Geschichte zurückprojiziert
wurden. Im Kontext der aktuellen, fächerübergreifenden bild- und
raumwissenschaftlichen Diskussion verspricht die
theoriegeschichtliche Vertiefung zudem neue Einsichten zum
Konzept des Relationalen, zum Begriff der Kontingenz oder zum
Problem des emotionalen Ausdrucks. Letzteres entzündete sich
exemplarisch am Expressionismus, war aber auch in der
Architektur-Diskussion von brisanter Bedeutung. Desweiteren
wurde das selbst in Fachkreisen kaum erörterte
historiographische Dilemma zwischen „Anachronismus“ und
„Historismus“ anhand von Walter Benjamins Schriften erläutert,
und das Spektrum der Medien erweitern Beiträge zur
Formdiskussion in der Literatur und im Film.
PROGRAMM
Fr., 25. Nov. 2011
10:00 CORNELIA JÖCHNER (Ruhr-Universität Bochum):
Von der Form zum Raum. Kunstgeschichtliche Universalie und
moderne
Architektur
11:20 ADI EFAL (Universität zu Köln):
Forms and Figures. Atoms of the plastic domain of production
12:10 HANS ZITKO (Hochschule für Gestaltung Offenbach a.M.):
Von einem substanz- zu einem relationentheoretischen Leitbegriff
der
Moderne
14:30 GEORG VASOLD (Freie Universität Berlin):
Rhythmus: Grundbegriff der Kunstgeschichte und Leitbegriff der
Moderne
15:20 DANIELA BOHDE (Goethe-Universität Frankfurt a.M. /
Universität
Basel):
Zwischen Formverlust und Sinnstiftung - der Farbfleck in der
kunsthistorischen Literatur der 1920er und 30er Jahre
16:40 KATHRIN MÜLLER (Goethe-Universität Frankfurt a.M.):
Beziehungsmuster. Theodor Hetzers Kategorie des Ornamentalen im
Kontext
von Kunstwissenschaft und moderner Kunst
17:30 MARTIN SEEL (Goethe-Universität Frankfurt a.M.):
Kontingenz als Formprinzip künstlerischer Objekte
Sa., 26. Nov. 2011
9:30 EVONNE LEVY (University of Toronto):
Early Formalism’s Suppression of Content: Wölfflin on Hans von
Marées
and the modern homoerotic classical picture
10:20 KASSANDRA NAKAS (Universität der Künste Berlin):
'Formenhass' und 'Formenfluten'. Der Topos des Fließenden im
ästhetischen Diskurs um 1900
11:40 MAGDALENA BUSHART (Technische Universität Berlin):
Die Expressionisten und die Formfrage
12:30 SEBASTIAN ZEIDLER (Yale University):
'Grundkontrast'. Carl Einstein’s Cubism
14:50 RUTH HEFTRIG (Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg):
Hamanns "Die deutsche Malerei vom Rokoko bis zum
Expressionismus"
(1925) im Kontext anderer Überblickswerke von 1917-1931
15:40 JAN BEHRS (Humboldt-Universität zu Berlin):
Gehalt und Gestalt – die konzeptuelle Bedeutung der modernen
Dichtung
für die 'formalistische' Literaturwissenschaft Oskar Walzels
17:00 ALESSANDRO DEL PUPPO (Università di Udine):
Reframing formalism in 1930 Italy. Longhi, Fiocco, Pallucchini
17:50 KERSTIN THOMAS (Johannes Gutenberg-Universität Mainz):
Künstlerische Form und suggestiver Ausdruck bei Meyer Schapiro
So., 27. Nov. 2011
9:30 HUBERT LOCHER (Philipps-Universität Marburg):
Form und Gefühl. Siegfried Giedions und Le Corbusiers emotionale
Mission
10:20 JULIA BURBULLA (Universität Bern):
"Überräumliche Kontakte und Entmaterialisierungen". Das
Formproblem in
der Raumkunst bei Rudolf Belling, Georges Vantongerloo,
Alexander
Dorner und Fritz Hoebner
11:40 JÖRG SCHWEINITZ (Universität Zürich):
Arnheim, Laokoon und die visuelle Form des Films.
Historisch-theoretische Perspektiven zwischen Gestaltpsychologie
und
Kunsttheorie
12:30 KAREN LANG (University of Warwick):
Presentation and Observation of Form in Walter Benjamin
|