An Aktualität hat der Roman nichts eingebüßt. Die
Worte stehen geschrieben. Frankreich das Land mit den meisten
Atomkraftwerken am Netz und das in unmittelbarer Nachbarschaft zu
Deutschland. Hier werden kritische Töne laut. Elisabeths Filhols Roman
zeichnet die Anti-Atomkraftbewegung aus und die bürokratischen
Hindernisse, die mit der Kernenergie verknüpft
sind. Was eine Jahrhunderte währende Beschäftigung nach sich ziehen
wird, solange die Halbwertzeiten radioaktiver Stoffe am laufen sind. Ein
Roman, der sich wie ein Baumkuchen aufschichtet und wieder abträgt.
Die Stimme des Romans hat etwas protokollarisches
im Sinn, nicht so emotional und gegnerisch wie die Romanchronik "Tschernobyl"
der Ukrainierin Svetlana
Alexijewitsch. Dennoch, Filhols Buch erkennt die Zielgruppe um
die es geht und für die er geschrieben ist. Kein gewöhnliches
Unterhaltungswerk, sondern Aufklärung will das Buch sein und das aus
französischer Sicht. Es ist eben erzählerische Aufklärung im Stil der
Zeit. Die Autorin scheut sich nicht zahlreiche Markennamen aus der
Autoindustrie frei zu benennen, wenn dies den Erzählfluß im Roman
weitertransportiert. Der Satzbau in manchen Passagen wirkt verkürzt, gerade
noch lang genug um einen
Sachverhalt wiederzugeben. Die Handlung ist knapp bemessen, keine
großartigen Schwärmereien wie das sonst in Prosaform geschieht. Eher
nüchtern und passabel beschreibt sie die Umgebung am Arbeitsplatz im
Reaktor. Der Mann im Roman heißt Jean-Yves, er bereitet den Braten in
der Küche zu.
Ist sie Außenstehende vor dem Geschehen, ist sie
spitzfindige Beobachterin oder will sie einen Zugang bis in das Innere der Reaktorwelt erschließen? Neue Lebenswelten eröffnen sich dem Leser auf diese Weise.
Es sind Einblicke die gewährt werden, wie im Dokumentarfilm "Unter
Kontrolle" (2010) von Volker Sattel oder der russische Kinofilm "An
einem Samstag" (2011) in der Regie von Alexander Mindadze, der das
Geschehen von 1986 noch einmal anreißt auf eine vom Leben erfüllte Art.
Das zeigt wie aktuell das Thema in den Köpfen der Menschen ist. Nicht
zuletzt werden die Ereignisse in Fukushima auf den Tagesplan gerufen,
obwohl der Roman keine Unglücksszenarien heraufbeschwören will, wie das
bei Gudrun Pausewang im Roman "Die Wolke" der Fall ist.
"Am Freitag rekonstruieren wir den Störfall am
Simulator" heißt es am Anfang des siebten Kapitels, um den
Wahrheitsfall im Studio nachzuahmen. Interne Schaltkreise sind
beschrieben, die zum Tagesablauf gehören. Techniker und Ingenieure
befinden sich gleich in der Nähe. Stressmanagement und Kollektivarbeit
bestimmen das Klima im Reaktorraum. Die Sehnsucht nach schöneren Dingen
im Leben scheint auf diesem Weg verloren gegangen zu sein. Eine Arbeitswelt
hinter Wänden wird beschrieben, entsprechend starr ist die Termini im Roman
stellenweise gewählt.
Eckpunkte Frankreichs sind die Landschaft. Die
geographischen Grenzen sind bezeichnet. Flüsse wie die Rhône
und die Loire kommen vor. Reaktoren benötigen Wasserkühlung. Das Massif
Central wird erwähnt. Jene bilden den Hintergrund zusammen mit dem
Reaktor - wie national die Frage der Atomkraft doch ist
- menschliche Gesichter dagegen verschwimmen beinahe hinter
bürokratischen Leitlinien. Individuum ist die Ich-Erzählerin. Sie ist
diejenige, die beobachtet und registriert. Noch ist das Kind nicht in den
Brunnen gefallen, könnte die Nachricht lauten, die dem Leser vermittelt
wird.
In Schweden ist der Roman von Elisabeth Filhol ein
großer Erfolg. Auch in Deutschland hat der Roman Leserschaft und
Anerkennung verdient.
Der
Reaktor
Roman von Elisabeth Filhol
Aus dem Französischen übertragen von Cornelia Wend
Edition Nautilus, 1. Auflage, Hamburg
122 Seiten, gebunden
Größe: 21,2 x 13 x 1,6 cm
Gewicht: 250g
ISBN: 978-3894017408