Nach ihrem ersten
Mayröckerfilm („1 Häufchen Blume, 1 Häufchen
Schuh“, 1990 für die Kunststücke im ORF) hat
die Filmemacherin Carmen Tartarotti sich 15
Jahre später entschlossen, einen zweiten
Film mit der Dichterin zu versuchen; diesmal
ohne inhaltliche und formale
Erwartungseinschränkungen, Längen- und
Terminvorgaben der Auftraggeber. Über
mehrere Jahre hinweg hat sie die Dichterin
in ihrer Wohnung und auf ihren Lesereisen so
diskret wie möglich begleitet und befragt,
großteils allein mit Kamera und Mikrofon,
wie es sich die Protagonistin ausdrücklich
gewünscht hat - entscheidend unterstützt
allerdings vom Schweizer Kameramann Pio
Corradi.
Plakatentwurf
und Übermalung von Arnulf Rainer
Eine der
Voraussetzungen für das Zustandekommen des
Films war die absolute Rücksichtnahme auf
die derzeitige Lebenssituation der
Schriftstellerin und auf ihre
Arbeitsrhythmen. Das machte eine andere
Methodik und Vorgehensweise erforderlich,
als man es von gängigen Produktionen kennt:
Die fragile Zimmerarchitektur in Mayröckers
Wohnung lässt den Einsatz eines normalen
Kamera-und-Lichtquipements auf keinen Fall
zu. Über Monate hinweg war die Regisseurin
darauf bedacht, Aussagen der Dichterin zu
erhalten, die keine Antworten auf Fragen
darstellen, sondern Äußerungen der scheinbar
selbstverständlichsten Art: unspektakulär
und gerade deshalb von großer
Anziehungskraft.
Carmen Tartarotti hat
eine eigene ästhetische Form gefunden, sich
ihrem Gegenüber versuchsweise zu nähern und
diesen Prozess der Annäherung filmisch
mitzugestalten. Transparenz und Distanz sind
der medienscheuen Schriftstellerin wichtig
und gerade deshalb öffnet sie sich in diesem
Film auf überraschende Weise:
Noch während die
Unmöglichkeit des filmischen Unterfangens
thematisiert wird, hat man Zugang erhalten
zur Dichterpersönlichkeit und dem Raum, in
dem sie arbeitet. Wir sehen das Chaos, das
nur ein scheinbares ist und schauen zu, wie
Friederike Mayröcker den Titel des Films
kreiert. Wir hören, dass es ausgeschlossen
ist, dabei zu sein, wenn sie an der Maschine
sitzt und werden dennoch in ihre Sprachkunst
versetzt, hineingezogen in den
Schreibprozess, so intim als gäbe es die
Kamera nicht.
Zum Trailer: Das Schweigen und das Schreiben - Friederike
Mayröcker
„DAS SCHREIBEN UND DAS
SCHWEIGEN“, der Filmemacherin Carmen
Tartarotti mit der über 84-jährigen
österreichischen Dichterin, ist ein Film
über die Bedingungen ihrer poetischen
Produktion und zugleich eine Reflexion der
filmischen Möglichkeiten ihrer Darstellung.
«Ich hab' gedacht es soll ein Film über das
Schweigen werden. Das Schreiben und das
Schweigen. Aber wie macht man das dann?
Vielleicht ist es bei anderen Autoren so,
dass sie beim Sprechen andere Sachen
hervorholen aus ihrem Hirn, während ich
nichts hervorholen kann. Ich mag nicht
sprechen! Und auf dieser Grundlage werden
wir unseren Film aufbauen» (Friederike Mayröcker)
Produktionsnotizen:
Als ich die
Schriftstellerin Friederike Mayröcker 2004
zum Poesiefestival nach Schweden begleiten
durfte, um herauszufinden, ob und in welcher
Form sich ein zweiter Film anbieten und
realisieren ließe, sagte FM eines Tages im
Aufzug des Hotels zu mir: „Ich weiß jetzt
worüber unser Film gehen soll: Das Schreiben
und das Schweigen.“ Ich war nicht wenig
überrascht und nach einer Weile des Zögerns
dachte ich, es sollte wohl so sein, dass die
Dichterin gewissermaßen ihren eigenen Film
macht, in dem ihr Kosmos zur Sprache kommt,
ungestört von Meinungen und Kommentaren.
Interviews hat sie im Laufe ihres Lebens
schon so viele gegeben und auf dem Weg der
direkten Befragung konnte nichts Neues, und
erst recht nichts Filmisches entstehen.
Inszeniert wurde in dem Film sehr wenig,
eher aufgespürt. Manchmal, ganz selten, habe
ich FM gebeten, etwas zu wiederholen, sodass
ich es filmen konnte. Vor jedem Kurzbesuch
habe ich überlegt, ob ich eher die Kamera
oder das Tonband mitnehme, wie ich die
Gerätschaft so zusammenpacke, damit
Friederike Mayröcker nicht erschrickt, wenn
sie mir die Tür zu ihrer Wohnung aufmacht,
wie ich es anstelle, mit den großen Taschen
durch den schmalen Flur zu schlüpfen und
gefahrlos alle Hürden auf dem Weg zu meinem
angestammten Platz zu nehmen. Dann saß ich
meist auf dem Besucherstuhl, ausgerüstet nur
mit meinem Taskam- Tonbandgerät und dem
Tischmikrofon auf wackligem Untergrund;
immer darauf bedacht, Aussagen von der
Dichterin zu erhalten, die keine Antworten
auf Fragen darstellen, sondern Äußerungen
der scheinbar selbstverständlichsten Art:
unspektakulär und gerade deshalb von großer
Anziehungskraft. Während dieser
Tonaufzeichnungen habe ich nach Filmmotiven
in der Wohnung Ausschau gehalten, häufig
begleitet von der Sorge, dass ich all die
aus organisatorischen Gründen verpassten
Motive ein andermal womöglich nicht mehr
vorfinden würde.
Als Ausgangsmaterial
des Films dienten keine in sich geschlossene
Szenerien, sondern lose Bilder, Geräusche,
Sprach- und Textaufnahmen, meist an
verschiedenen Tagen, Wochen und Monaten, an
wechselnden Orten aufgenommen, also
vollkommen bruchstückhaft und voneinander
getrennt. In der Montage mussten diese
Fragmente dann millimeterweise gedacht und
zusammengefügt werden, ohne konstruiert zu
sein.
Es war mir wichtig,
dass das Sprechen von F. Mayröcker ganz
leicht und selbstverständlich ihre Aktionen
begleitet, so als würde sie Zwiesprache mit
sich selbst halten und nur ab und an die
Außenwelt und mich als Anwesende hinein
lassen. Um dahin zu gelangen habe ich den
beiläufigsten und scheinbar
nebensächlichsten Äußerungen der
Schriftstellerin nachgespürt und die über
zwei Jahre hinweg gemachten Tonbandaufnahmen
zu einem Monolog montiert. Eine Art Ziel
dieses Films war es, ganz unartifiziell zu
bleiben und eine Poesie in der Schlichtheit
zu finden.
Die Musik im Film
stammt aus dem Universum Friederike
Mayröcker. Musik, die sie selbst hört und
die in ihrer Literatur vorkommt: Schubert,
Keith Jarrett, vorwiegend Maria Callas. Aber
auch der Jazz, die Musik Ernst Jandls kommt
vor.
Monolog FM:
„Von der Küche aus seh´
ich in ein Fenster hinein, das ich in vielen
Gedichten beschrieben hab´. Mein erster
Blick wenn ich aufstehe, ist in dieses
Fenster hinein. Das verfolgt mich jetzt
eigentlich, dass ich die Realität ganz
herein nehme in mein Arbeiten.
Diese ganzen
Fenstergedichte, da steh ich buchstäblich
vor dem Fenster mit Stift und Papier und
schreib alles auf mit der Hand, was ich seh´.
Und dann kommen die Assoziationen dazu wenn
ich bei der Maschine sitz´. So funktioniert
es. Die Realität aufschreiben!
Ich hab gedacht früher,
Realität ist gleich nicht poetisch, oder
wenig poetisch und jetzt bin ich
draufgekommen, dass die Realität sehr viel
Poesie hat - Das ist interessant...“
Friederike Mayröcker
wurde am geboren am 20. Dezember 1924 in
Wien geboren. Bereits 1945 veröffentlichte
sie erste Gedichte in der Zeitschrift „Der
Plan“, bis heute hat sie mehr als achtzig
Titel veröffentlicht, darunter Lyrik,
Hörspiele, Kinderbücher, Romane und
Kurzprosa. Sie gilt als eine der wichtigsten
deutschsprachigen Schriftstellerinnen, die
mit einer Vielzahl von Auszeichnungen und
Preisen für ihr Lebenswerk geehrt wurde.
BIOGRAFISCHE DATEN
Suite (Aus Magische
Blätter VI, Ausschnitt) Fremd bin ich
eingezogen, damals an diesem 20. Dezember
1924, als ich meiner Mutter entsprang –
nachdem sie´ s Bündel in die Küche zum
Ofenskelett gebracht: sie trägt, sie wiegt
das Bündel in ihrem Arm, aber da ist nichts
drin, noch nicht, sie wiegt es in ihren
Armen, so groß ist ihre Vorfreude, sie wiegt
das leere Polsterzeug, sie lebt von der
Vorstellung, das so sehnlich erwartete Kind
sei schon da, sei schon da drinnen, Spur des
verborgenen Kindes, etc.
Obwohl ich mir immer
fremd bin, gibt es diese seltenen nackten
Augenblicke in welchen ich mich zu
durchschauen glaube, ich erkenne dann meine
schlechten Charakterzüge, Feigheit, Faulheit
mangelnde Entschlussfähigkeit intellektuelle
Schwäche Kritiklosigkeit, und ich beklage
mich, ich klage darüber wie die Zeit in die
Seele dringt usw.
Friederike Mayröcker auf Wikipedia
Technische Angaben zum Film
Format: DigiBeta / 35mm
Ton: Dolby SR
Fassung:
Deutsche Originalversion mit englischen
Untertiteln
Produktion © Carmen
Tartarotti-Filmproduktion, Frankfurt 2009
Stab
Buch: Carmen Tartarotti und Georg
Janett
Kamera: Pio Corradi
Ton: C.
Tartarotti, P. Utvary, M. Leitner
Montage:
Carmen Tartarotti und Ferdinand Ludwig
Text
& Musikberatung: Bodo Hell
Produktionsassistenz: Sandra Böhme
Sounddesign: Kai Tebbel
Kontakt Real Fiction
Filmverleih / Köln
www.das-schreiben-und-das-schweigen.realfictionfilme.de
Stadtkino Filmverleih / Wien
www.stadtkino.at Carmen Tartarotti–
Filmproduktion
ctartarotti@gmx.net
www.carmen-tartarotti.de
HESSISCHER
FILMPREIS DOKUMENTARFILM 2009
Jurybegründung
Ein magischer Film über Friederike Mayröckers wundersame Schreibwelt - wie geht
das? Vor allem, wenn die mittlerweile
84-jährige Schriftstellerin eigentlich gar
nicht sprechen mag? Aus ihrem vorgeblichen
Schweigen und ihrem manischen Schreiben
destilliert Carmen Tartarotti mit
unendlicher Geduld und viel
Einfühlungsvermögen ein Meisterwerk, das
sich ganz in den Dienst Friederike
Mayröckers stellt und doch von ganz eigener
Ausstrahlung ist. Ein Film über das fragile
Verhältnis von Lebenswirklichkeit und
Poesie: Behutsam taucht er ins berühmte
Zimmer der Mayröcker ein, das Schreibzimmer,
den Träumerplatz voller Manuskripte, Skizzen
und Fundstücke. Die Intimität des
Schreiborts wird zum Programm der filmischen
Annäherung: Alles Geschaute wird Material -
nicht für eine Interpretation, sondern, wie
Carmen Tartarotti treffend sagt, für "ein
Festhalten der Zwischentöne in der Stimme,
ein leises Lachen, einen schweren Atmer,
lange Pausen, ein Infragestellen, das
Nachklingen der Stille". Ein Film als
Zusammendenken des Unzusammenhängenden, ein
sensitives und sensibles Assoziationswunder,
das der Kunst Friederike Mayröckers ein
filmisches Äquivalent entgegen hält.
LICHTER
FILMPREIS 2010
„Mit souveräner Handhabung
der filmischen Mittel nähert sich die
Filmemacherin Carmen Tartarotti der
österreichischen Schriftstellerin Friederike
Mayröcker respektvoll an, ohne je
aufdringlich zu sein. Ein außergewöhnliches
Portrait einer faszinierenden
Persönlichkeit, die uns mit großer
Ehrlichkeit an ihrem künstlerischen
Schaffensprozess teilhaben lässt.“