Im
ersten Beitrag: Strukturales Denken in der
Architektur geht Jörg H. Gleiter von einem
Strukturalismus aus, wie er seit den
1960er Jahren Gültigkeit hatte und erst durch die
Postmoderne abgelöst wurde. Wobei diese Entwicklung mit
dem Buch von Charles Jencks "Die Sprache der
Postmodernen Architektur" (1978) erst einen Namen
bekommt. Der architektonische
Strukturalismus als eigene Richtung endete bald in den 1970er Jahren. Dem
Autor geht es bei seiner Darlegung um die
Übertragung der strukturalen Linguistik in die
Architektur, was letztlich den Begriff der Struktur
selbst betrifft.
Wenn in der Architektur von
Struktur gesprochen wird, dann ist damit das
konstruktive System gemeint, wie Stützen, Träger und
Balken. Wobei Struktur von Natur aus etwas
Unsichtbares ist. Struktur bezieht sich stets auf die
unsichtbaren Gesetze.
Der Autor unterscheidet zwischen
den Begriffen langue, was gleichzusetzen ist
mit der Grammatik und parole, was soviel
bedeutet wie ein aussagefähiger Satz. Langue
bezeichnet die unbewußten Regeln des Satzes, an die
nicht gedacht wird beim Schreiben oder Sprechen. Die
Gleichsetzung von langue und parole
mit Primär- und Sekundärstruktur bedeutet demnach
eine Hierarchisierung, was jedoch dem
Strukturalismus zuwider läuft. Dieser kennt nur das
Duale an, nicht aber die Hierarchie. Struktur ist
ein System von Transformationen.
Arnulf Lüchinger (1981)
bezeichnete den Strukturalismus als eine "Denkart
des 20. Jahrhunderts", das heißt als Denkart der
Moderne. In der Architektur erfährt das strukturale
Denken einen Umschlag von der
wissenschaftlich-analytischen Tätigkeit des
Linguisten zur gestalterisch-synthetischen Praxis
des Architekten. Es kann hier nach Jörg H. Gleiter
auch vom Übergang einer geistes- und
kulturwissenschaftlichen Tätigkeit hin zu einer
Tätigkeit des Architekten gesprochen werden.
Gleichwohl verbreitete sich mit dem
architektonischen Strukturalismus eine Vorstellung
von einer Methode, um mit der zunehmenden
Komplexität besser fertig zu werden. Komplexität
sollte mit Struktur jedoch nicht reduziert, sondern
gerade erst ermöglicht werden, wird erklärt.
Der zweite Beitrag: Gelebter
Raum der Erinnerung befaßt sich mit Mahnmalen,
wie gegen den Nationalsozialismus, die nach Ansicht
des Autoren seit den 1990er Jahren einer Wandlung
unterliegen. Er spricht zum Beispiel die
"Stolpersteine" von Gunter Demnig an. An anderer
Stelle nennt er Alfred Hrdlickas "Mahnmal gegen
Krieg und Faschismus" in Wien.
Die neuen Mahnmale verweigern
sich der Repräsentation wie auch der
Einfühlungsästhetik. Gleiter spricht sogar von der
Dissimulation der Mahnmale, das heißt das
Verbergen derjenigen Symptome, wofür sie eigentlich
stehen. Andererseits erwähnt er deren Korrespondenz
und nennt den gelebten Raum, in welchem die Mahnmale
vorkommen, wie das mit Demnigs "Stolpersteinen" der
Fall ist. Während Hrdlickas halbverzerrtes Mahnmal
in seiner Umgebung noch stärker der skulpturalen und
sozio-kulturellen Bedeutung folgt.
Architekturtheorie: Denkmal einer Krise
nennt sich der dritte
Beitrag, der sich auf Walter Benjamin bezieht und dessen
Werk über "Das Kunstwerk im Zeitalter der
technischen Reproduzierbarkeit". Auf Architektur
bezogen, war dies eine gewaltige Veränderung der
Herstellungsverfahren hin zur Maschinenproduktion zu
Beginn der Moderne. Mit Wandlung der
Bauaufgaben entstand das Bedürfnis nach
Theoriebildung, sagt Jörg H. Gleiter. Vormoderne
Gesellschaften unterscheiden sich von der Moderne.
Der Autor nennt die Reflexionen über Architektur in
vormodernen Gesellschaften "Nachdenken über die
Architektur", wobei nicht ersichtlich wird,
weshalb diese Unterscheidung getroffen werden soll.
Reflexionen können immer nur für sich stehen und von
ganz unterschiedlicher Qualität sein unabhängig von
Moderne und Nicht-Moderne. Die besondere
Theoriebildung im Maschinenzeitalter wurde im Satz
zuvor bereits aufgeworfen. Gleiter nennt den
französischen Akademiestreit im 17. Jahrhundert. Der
Akademiestreit stellte die Frage nach Fortschritt
und Entwicklung in den Künsten und in der
Architektur. Hier werden zeitgenössische Beispiele
genannt. Die Beschreibung währt bis zu Walter
Gropius und den Bauhausformen der Moderne und der
Entstehung
einer Kritischen Theorie der Architektur. Das
Stadium der Krise ist jedoch spätestens mit dem
digitalen Zeitalter überwunden, heißt es noch.
Was also ist Architekturtheorie?
Jörg H. Gleiter beantwortet die Frage mit dem Gemachtwerden
und Gemachtsein, einer kritischen Reflexion der Architektur und kritischen Reflexion ihrer kulturellen Funktion im
dynamisch sich ändernden Kräftefeld. Er fügt an: im
Gegensatz zum Idealismus der vormodernen
Gesellschaften zeichnet sich die traditionelle wie
die kritische Architekturtheorie durch einen
radikalen Willen zu einer Kultur der Gegenwart aus.
Steinsäule und Stahlträger
bezieht sich im wesentlichen auf Siegfried Giedions
Buch "Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen
in Eisenbeton" aus dem Jahre 1928, der darin die
Frage aufwirft, inwieweit der bisherige Begriff der
Architektur nicht zu eng geworden ist, aufgrund der
neuen Materialien, Stahl und Beton, die seit dem 20. Jahrhundert
gebräuchlich waren. Arthur Schopenhauer lehnte im
19. Jahrhundert die Baukunst in Eisen und Stahl und
deren formale Gestalt aufgrund seiner
klassizistischen Ästhetikvorstellung entschieden ab.
Er sah in der
Verwendung von Eisen statt Stein sogar einen
Rückschritt in der Entwicklung.
Gottfried Semper meinte dann, die
Anfänge der Architektur fangen mit der Weberei an.
Architektur entsteht aus der Weberei, heißt es.
Ursächlich ist das Ornament nach Semper. Das Element,
in welchem technisch-materielle Verfahren und
kulturelle Voraussetzungen zu einer Einheit
zusammengeführt werden. Im Gegensatz zu Schopenhauer
wurde mit einer dynamischen sich ändernden
kulturellen Logik somit eine anthropologische
Perspektive hinzugefügt. Über Semper hinausgehend
erkannte Giedion eine psychologische Komponente des
anthropologischen Ansatzes. Daraus folgt die
Umsetzung aus dem handwerklichen in
den industriellen Baubetrieb.
Ästhetik am Nullpunkt
bezieht sich auf das Mahnmal der ermordeten
europäischen Juden von Peter Eisenman in Berlin, das
erst nach drei Wettbewerben und sieben Jahren
kontrovers geführter Diskussionen im Jahre 2005 der
Öffentlichkeit übergeben wurde. Ähnlich der nächste
Beitrag Vorwärts zur Tradition, was als
Überschrift erst einmal unmöglich und
rückschrittlich klingt, um nicht wieder bei
Schopenhauer anzukommen und dessen Ablehnung der
formalen Gestalt durch Eisenkonstruktionen.
Es geht in diesem Beitrag um eine
konkrete Gebäudebeschreibung, die der Fagus-Werke
aus dem Jahre 1914 von Walter Gropius.
Symmetrieachsen, die antithetisch gegeneinander
gerichtet sind. In Bezug auf den Sockel spricht
Winfried Nerdinger von einer dialektischen
Verbundenheit. Hinzu kommen die freie Eckausbildung;
vorgehängte Fassade mit horizontaler Logik und
ähnliches mehr. Im weiteren handelt es sich um die
ersten Schaffensphase der Jahre 1907 bis 1914 des
Bauhausgründers. In diesem Zusammenhang steht auch
ein Zitat: Vorwärts zur Tradition.
Der siebte Beitrag nennt sich
Urgeschichte der Moderne: Japan. Was sind
Ursprungsträume? Nach Walter Benjamin im
Passagen-Werk korrespondieren moderne Technik
und archaische Symbolwelt in Bezug auf die Moderne.
Weitere Ausführungen in diesem Beitrag sind
rückblickend und vergleichender Natur auch in Bezug
auf Japan.
Der 162seitige Band stellt keine
Gesamtdarstellung dar, soll aber der Anfang einer
solchen sein. Im Nachwort heißt es, die meisten der
Beiträge beruhen auf Vortragsmanuskripten. Der
Vortrag zum Thema Strukturalismus beruhte auf einem
Vortrag vom 20. November 2009 auf der Konferenz:
Structuralism Reloaded an der Hochschule München
und in modifizierter Form am 26. April 2010 an der
ETH-Zürich. Und nur bei dem Beitrag Steinsäule
und Stahlträger handelt sich ausschließlich um
einen Buchbeitrag. Was der Band vermissen läßt, ist
das Fazit mit übergreifenden Überlegungen. Das
Nachwort enthält lediglich instruktive Hinweise in
Bezug auf die Vortragstätigkeit.
|
Jörg H. Gleiter am 20.
November 2010 an der UdK Berlin, Raum 310,
und seinem Vortrag: Urgeschichte der
Moderne, Foto: Maass |
Jörg H. Gleiter ist
Architekt und Professor für Ästhetik an der freien
Universität Bozen. Er lebt und arbeitet in Berlin
und Bozen.
Im Vortrag, hier in einer
Kurzfassung wiedergegeben, beklagte der Autor
dann einen Mangel an Theorie und was überhaupt
Theorie sein sollte - digitale Techniken
kämen hierbei immer schlechter weg -
sind nur Simulation und Montage, weshalb die
Architekturtheorie verloren gegangen sei. Nach der
Postmoderne sei Geschichte deshalb erst mal am Ende
mangels Theorie.
Der Vortrag am 20. Nov. brachte
weitere Punkte hervor, umfasste den
Ursprungsgedanken nach Benjamin, wie im Buch
erwähnt. Die Moderne ist keineswegs geschichtslos,
hieß es. Moderne will die Verbindung zur Urmoderne
im Sinne Benjamins und Le Corbusiers. Wobei Moderne
nicht einfach Urgeschichte bedeutet. Der Vergleich
vom Stahlbau zum Pfahlbau hinke etwas nach. Nur in
bestimmten Zeiten drängen diese Formen bis zur
Lesbarkeit.
Nachdem Goethe im Vortrag für das
Vergangene steht und Benjamins Passagen-Werk
das Gegenstück zur materiellen Welt darstellt,
stellte sich als dritte Aufgabe die "Infizierung der
Geschichte". Der Historiker sucht Keime für die
Gegenwart in der Vergangenheit. Das
bedeutet, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu
infizieren. Goethe ist in seiner Art modern, indem
er die "Italienische Reise" beschreibt. Moderne
beginnt aber auch schon bei Karl Friedrich Schinkel
und bei Gottfried Semper. Modern ist, was vorher
nicht als modern erkannt werden konnte. Schließlich
wird die "doppelt gewendete Identität" genannt mit
Hinweis auf radikale Avantgardisten, die sich wie
radikale Rekonstruktivisten verhalten, wobei letztere
kritisch betrachtet, nur so
tun als ob.
Urgeschichte der
Moderne. Theorie der
Geschichte der Architektur
Architektur
Denken 4
von Jörg H. Gleiter
transcript Verlag, 1. Auflage,
Bielefeld 2010
162 Seiten, broschiert
Größe: 22,4 x 13,6 x 0,4 cm
Gewicht: 250g
ISBN: 978-3837615340